Wilhelm und Monika Bauer sind im „Boskoop“ in ihrem Element. Foto: Max Kovalenko

Wilhelm Bauer ist ein Obst- und Weinbauer vom alten Schlag. Ein Überzeugungstäter, der seine Produkte selbst an den Kunden bringen will. Seit 37 Jahren serviert er Viertele in Boskoops Besen, am 28. März zum letzten Mal. Weil es das Schicksal so will.

Stuttgart - Draußen nieselt es, die Tankstelle ist vor langer Zeit schon aufgegeben worden und verfällt. Wer bei dem grauen Wetter hier unterwegs ist, den scheint Boskoops Besen zu verschlucken: Hinter der schweren Holztür sitzen Schulter an Schulter Rentner, Angestellte in der Mittagspause, Stammtischrunden, Handelsvertreter. Zwischen die Ellbogen passt kein Blatt Papier, das Stimmengewirr ist gewaltig, das Gelächter groß. „Wilhelm, wo bleibsch denn“, rufen die Gäste.

Der Chef kennt sie alle. Er grüßt nach links und rechts, schüttelt Hände, klopft auf Schultern, nimmt in den Arm und organisiert inmitten einer Menschentraube einen frei werdenden Tisch für Neuankömmlinge. Über den Köpfen schweben Teller voller Schwabenklassiker, es duftet nach Sauerkraut und Gerauchtem.

Seit 37 Jahren sind Wilhelm und Monika Bauer Auf der Steig in Bad Cannstatt für ihre Gäste da. 30 Jahre lang waren sie auf dem Weindorf und beim Weinblütenfest dabei. 22 Jahre lang haben sie im Sommer zum Hoffest geladen. Das Paar hat Übung.

„Mit 15 war ich zum ersten Mal in einem Besen“, sagt der Wirt. Er war Lehrling im Obst- und Weinbau und vom Konzept sofort überzeugt: „Selbst erzeugen, selbst veredeln, selbst verkaufen direkt an den Endverbraucher, und ich hatte ein Riesenglück mit meiner Moni, die alles mitgemacht hat.“

Schwäbische Besonderheiten

Unter einer Laube, neben dem Eingang zur Besenwirtschaft, ist heute noch ein kleiner Hofladen. Dort gab es Äpfel vom Schmidener Feld und Trauben und Wein vom Cannstatter und Feuerbacher Berg sowie aus der bekannten Lage Zuckerle, zwischen Münster und Mühlhausen gelegen. „Mit 18 Jahren hab’ ich den Familienbetrieb übernommen und ganz auf Wein umgestellt“, sagt Wilhelm Bauer. Das sei ein spannender Job, vor allem in dem Moment, wenn man das erste Versucherle aus dem Fass hole.

Teller um Teller bringt Monika Bauer aus der Küche an die Tische: Salzfleisch, Peitschenstecken, Sülze, Würste, Speckknödel, Griebenwurst, Stenkerkäs. Und dienstags und freitags auch schwäbische Besonderheiten wie Kartoffelsalat, Knöchle und Kutteln. Krügeweise oder im Henkelglas wird der Wein serviert und fließt zügig die Kehlen hinunter. „Nur schade, dass kaum noch jemand singt“, bedauert der Chef, auf dessen Witze die Gäste mit Spannung warten.

Dem Wirt machte der Lärm nie was aus: „Wenn die Besen-Saison rum war, haben wir wieder im Weinberg geschafft. Dort ist es ruhig, da ist kein Gedränge, da ist man allein. Im Wechsel hat beides großen Spaß gemacht.“ Das wird Wilhelm Bauer fehlen: Es ist seine letzte Saison als Wirt, als Winzer, als Hofladenbetreiber, wo jetzt noch die Restbestände an Wein, Weinbrand, Saft und Bos-Secco, seinem Perlwein, verkauft werden.

Diagnose Leukämie im Jahr 2000

Die Fakten sind geschaffen. Seine Obstanlage hat er 2011 schon abgegeben, die Weinpachtflächen auf Oktober 2012 gekündigt, und die eigenen Weinberge hat Bauer an zwei junge Weingärtner verpachtet. Ursprünglich sollte sein Sohn, der Weinbautechniker Jörg Bauer, den Betrieb übernehmen. „Wir hatten schon unser Ausgeding vorbereitet“, sagt Vater Wilhelm. Darunter versteht man ein kleineres Gebäude, das für die Altbauern errichtet wird. In diesem Fall ein Reihenhaus im Sommerrain, in das er und seine Frau Monika einziehen wollten, sobald der Betrieb übergeben wäre.

Doch im Jahr 2000 diagnostizierten die Ärzte bei Jörg Bauer Leukämie. Zwei Stammzelltransplantationen lässt er über sich ergehen und baut zwischendurch, vermeintlich auf dem Weg der Heilung, den Wein seines Vaters aus. Nach einem weiteren Rückfall wagt er eine Hochdosis-Chemotherapie und eine dritte Transplantation mit Stammzellen seiner Schwester – ohne Erfolgsgarantie. Er überlebt.

Seit fast zehn Jahren ist Jörg Bauer frei von Krebszellen, die Arbeit im Weinberg und im Keller wäre dennoch zu anstrengend. „Mein Knochenmaterial starb ab, verursacht durch Cortison“, sagt er. Innerhalb von vier Jahren musste er sich fünf Gelenkprothesen einsetzen lassen. Damit war die Betriebsübernahme kein Thema mehr.

„Wir Bauers waren nie leise auf der Welt“

Seit anderthalb Jahren denken Wilhelm und Monika Bauer schon ans Aufhören. „Als ich 2012 ein Aneurysma in der Aorta und eine große Herz-OP hatte, war das wie ein Schlag ins Gesicht, aber auch eine Bestätigung dafür, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist“, sagt Wilhelm Bauer. Sohn Jörg, seine Frau Sabine und die 13-jährige Tochter Julia leben jetzt im Ausgeding, Jörgs Schwester mit ihrer Familie – das vierte Kind ist unterwegs – auf dem Bauer’schen Hof. Statt Besenwirtschaft machen die Eltern bald Oma- und Opa-Dienst.

„Wir Bauers waren nie leise auf der Welt“, sagt Wilhelm Bauer. Deshalb gibt es ein dreitägiges Abschiedsfest für die Gäste. Der Reinerlös soll der Deutschen Knochenmark-Spenderdatei (DKMS) zukommen. Die übrigen Weine – Riesling, Gewürztraminer, Müller-Thurgau, Lemberger, Spätburgunder Dornfelder – werden im Hofladen verkauft. Oder bei seinem 65. Geburtstag im April im Freundeskreis einfach weggetrunken. Wilhelm Bauer wird zum Müller-Thurgau greifen. „Das ist mein Lieblingswein.“

Boskoops Besen, Auf der Steig 33, Stuttgart-Bad Cannstatt, hat regulär noch von Dienstag, 26. Februar, bis Samstag, 23. März, von 11 Uhr an geöffnet. Montags ist Ruhetag. Das Abschlussfest zugunsten der DKMS steigt von Dienstag, 26., bis Donnerstag, 28. März, von 11 bis 24 Uhr mit Live-Musik von den Drei Richtigen.