Der Görlitzer Park im Berliner Stadtbezirk Kreuzberg scheint zu einem rechtsfreien Raum verkommen zu sein. Hier ziehen Dealer ihre Drogengeschäfte ohne Skrupel und Angst vor einer Bestrafung durch. Polizei, Politiker und Anwohner sind machtlos. Ein Besuch.
Berlin - Arno muss mal. Thorsten bleibt nur wenige Meter neben ihm auf der Wiese stehen. Leichter Nieselregen tröpfelt auf seine Kapuze, ein eisiger Wind bläst ihm ins Gesicht. Er blickt gedankenverloren in die Ferne. Der 31 Jahre alte Wirtschaftsingenieur mit der Statur der Marke Wandschrank und der blonden Mähne wartet.
Als Arno sein Geschäft verrichtet hat, greift Thorsten in die linke Tasche seines beigefarbenen Parkas, zieht eine kleine Plastiktüte heraus, bückt sich und sammelt den Kothaufen auf. Sein Hund rast schwanzwedelnd davon. Thorsten geht langsamen Schrittes zurück auf den Weg. Ein Mann, Anfang 20, spricht ihn an – mit einem kurzen Nicken und nur einem Wort: „Gras?“
Thorsten schüttelt den Kopf. Drogen sind nicht sein Ding. Er geht weiter. Als Hundebesitzer werde man mittlerweile nur noch selten von Drogendealern angesprochen, sagt er. Aber: „Sonst ist es hier in der Gegend ganz normal, dass man Cannabis angeboten bekommt.“
Umschlagsplatz Nummer eins für Marihuana und Haschisch
Der Görlitzer Park und die angrenzenden Straßen im Berliner Stadtteil Kreuzberg sind der Umschlagsplatz Nummer eins für Marihuana und Haschisch. Das zieht nicht nur einheimische Konsumenten an, auch Touristen aus der ganzen Welt kommen hierher. In einigen Online-Foren und Reiseführern wird die Gegend offensiv angepriesen – nach dem Motto: Wer abends nach dem Besuch des Bundestags und des Brandenburger Tores zur Entspannung einen Joint rauchen will, kann sich den Stoff dafür problemlos im Görlitzer Park besorgen.
Die Berliner Behörden haben die Umstände lange ignoriert. Kreuzberg, in den 1970er und 1980er Jahren ein Zentrum Alternativer und Hausbesetzer, gilt seit jeher als der etwas andere Bezirk. Das Gros der Bewohner ist liberal und tolerant – selbst bei Gesetzeswidrigkeiten. So konnte der Görlitzer Park über die Jahre hinweg zu einem mehr oder weniger rechtsfreien Ort werden. Nachts kommt es hier immer wieder zu brutalen Überfällen. Und tagsüber bestimmen Drogendealer, überwiegend Flüchtlinge aus Afrika, das Bild der 14 Hektar großen Grünflächenanlage. Selbst bei nasskaltem Wetter.
Auch an diesem grauen, verregneten Vormittag sitzen zwei Männer auf einer Parkbank, ein weiterer lehnt neben ihnen vor seinem Fahrrad und nippt kurz an seinem Pappbecher. Die jungen Erwachsenen wirken entspannt, sie unterhalten sich und lachen. Als ein jugendlicher Passant mit Kapuzenpulli in flottem Gang auf sie zukommt, mustern sie ihn. Einer spricht kurz mit dem potenziellen Käufer, dann zieht ein anderer ein Tütchen aus der Innentasche seiner Jacke. Es wird getauscht: Geld gegen Drogen.
28 Jahre alt und aus Nigeria geflüchtet
Knapp hundert Meter entfernt stehen zwei weitere Männer abseits des Weges unter einem Baum. Einer der beiden nennt sich Mojo. Er sei 28 Jahre alt und aus Nigeria geflüchtet, weil er dort um sein Leben fürchten musste, sagt er. In Deutschland ist der Asylbewerber zumindest vorerst sicher. Und doch ist längst nicht alles gut. Er steckt in einem Dilemma. „Wir haben keine Papiere, keine Aufenthaltsgenehmigung, keine Arbeit – wir haben absolut nichts!“, klagt Mojo wild gestikulierend. Niemand kümmere sich um ihn und seine Bekannten.
Der Drogenverkauf sei die einzige Möglichkeit, schnell ein paar Euro zu verdienen, um Essen und Trinken kaufen zu können. „Irgendwie müssen wir doch überleben“, sagt er und zuckt mit den Schultern. In Schrittgeschwindigkeit rollt Annette (52) mit ihrem dunkelblauen Damenrad vorbei. Sie hält an, um sich ins Gespräch einzuklinken. Die linke Kreuzberg-Bewohnerin mit der weinrot getönten Kurzhaarfrisur bringt Verständnis für Menschen wie Mojo auf. „Das sind arme Schweine“, sagt sie, „die haben doch gar keine andere Wahl.“
Einigen anderen Anwohnern reicht es dagegen. Seit ein Kleinkind ein Kokainbriefchen im Sandkasten gefunden hat und sich die Drogengeschäfte in die umliegenden Straßen – teilweise sogar in die Hauseingänge – ausgedehnt haben, gehen selbst die sonst so toleranten Kreuzberger auf die Barrikaden. Vor allem Familien fühlen sich belästigt und bedroht. „Es geht nicht allein um den Verkauf von Cannabis, das wäre mir egal“, sagt Hanife Ekinci, Hausfrau und Mutter einer sechsjährigen Tochter, „aber wenn man sie bittet, dass sie die Kinder in Ruhe lassen und vor dem Haus verschwinden sollen, werden sie aggressiv.“
Das kann Hakan, der Besitzer einer Shisha-Bar, bestätigen. Wochenlang missbrauchten die Dealer die Terrasse und die Blumenkübel vor der Bar als Versteck für Drogen und bedrängten die Gäste der Shisha-Bar. Hakan rief mehrmals die Polizei – doch die Drogenverkäufer kamen zurück. Manchmal wenige Minuten später, manchmal erst am nächsten Tag. Mitte November des vergangenen Jahres eskalierte die Situation.
Der Bar-Inhaber und ein Freund stachen zwei Jugendliche aus Guinea nieder – angeblich aus Notwehr. Die Staatsanwaltschaft sieht das anders, sie wirft dem 25-Jährigen und seinem Kompagnon versuchten Totschlag und gefährliche Körperverletzung vor. Im Gegenzug verwüsteten Freunde der Verwundeten die Bar und steckten sie anschließend in Brand.
Zahlreiche Razzien und hohe Präsenz am "Görli"
Nach diesen Vorfällen reagierten auch die Berliner Behörden. Die Polizei führte zahlreiche Razzien durch und verstärkte von morgens bis abends ihre Präsenz rund um den Görli, wie der Park von den Einheimischen liebevoll genannt wird. Das Problem ist aber, dass die Kontrollen nicht effektiv sind. Die Beamten müssen viele Händler wieder laufen lassen, weil diese weniger als 15 Gramm Gras mit sich führen. Diese Menge gilt in Berlin als Eigenbedarf. Die Staatsanwaltschaft stellt diese Verfahren ein. Zum Vergleich: In Baden-Württemberg gelten drei Konsumeinheiten als Eigenbedarf, was etwa sechs Gramm entspricht.
Die größeren Mengen an Drogen verstecken die Dealer im Görli im Boden oder in Büschen. Um die Verstecke zu reduzieren, wurde das Naherholungsgebiet vor wenigen Wochen massiv ausgeholzt. Entfalten die Maßnahmen bereits die gewünschte Wirkung? Hundebesitzer Thorsten ist der Ansicht, dass sich kaum etwas verändert habe.
Trotzdem spaziert er mit seinem Labrador-Mischling gerne durch den Görli. Der Park liege nur zwei Gehminuten von seiner Wohnung entfernt, erklärt er: „Außerdem habe ich den Eindruck, dass sich Arno hier sehr wohlfühlt.“ Der schaut sein Herrchen kurz an, dann rennt er wieder voraus in die zentral gelegene Senke des Parks.
"Nicht in den Griff zu bekommen"
Dort tollt Dalmatiner-Dame Nala über die Wiese. Arno und Nala kennen sich bereits von vorherigen Spaziergängen. Sie beschnuppern sich. Nalas Besitzerin Kathrin glaubt, dass das Drogenproblem im Görlitzer Park „nicht in den Griff zu bekommen ist“. Die Berliner Politik sieht das anders.
Kreuzbergs Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) regt an, den Verkauf von Haschisch in speziellen Läden zu legalisieren. Das lehnt die Berliner Regierung jedoch strikt ab. Innensenator Frank Henkel und Justizsenator Thomas Heilmann (beide CDU) setzen stattdessen auf eine neue Richtlinie, die zum 1. April in Kraft treten soll. Ihr Inhalt: Einige Gebiete – darunter sind Straßen vor Schulen und Kindergärten, aber eben auch der Görlitzer Park – sollen zu sogenannten Null-Toleranz-Zonen werden.
Ziel sei es nicht, die Dealer in Schach zu halten, sondern sie zurückzudrängen, sagt Henkel. Damit das gelingt, werden nicht nur Streifenpolizisten eingesetzt. Es wird zudem eine 50 Mann starke Sonderkommission eingerichtet, die das Netzwerk ermitteln und den Drogenhandel bekämpfen soll. Der stellvertretende Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Matthias Weitemeier, wirft Henkel „Aktionismus“ vor. Er kritisiert einen Teil der Pläne als „unausgegoren“. Für dauerhafte Brennpunktstreifen etwa fehle das Personal.
Thorsten und Arno haben ihre morgendliche Runde beendet. In der hellen, gut beheizten Wohnung hat seine Freundin Clarissa (29) bereits einen Kaffee zubereitet. In der Küche läuft das Radio, Thorsten nimmt die Tasse und setzt sich an den Tisch. Nebenan schlabbert Arno hastig das frische Leitungswasser aus seinem Napf. Was der Vierbeiner mit dem dunklen Fell jetzt noch nicht weiß: Am Abend wird es kein Wiedersehen mit Nala geben. Clarissa wählt seit mehreren Wochen eine andere Route, wenn sie Arno ausführt. „Ich bin ein offener und toleranter Mensch“, sagt die Unternehmensberaterin, „aber wenn ich alleine durch den Park gehe, fühle ich mich unwohl und bedroht.“ Ob sich das jemals wieder ändert?