Nach wie vor ist die Sagrada Família – Wahrzeichen Barcelonas – eine Großbaustelle, die Millionen von Menschen anzieht. Foto: Bildagentur-Online

Der Papst hat die Sagrada Família zur Basilika geweiht. So ist die Baustelle attraktiver denn je.

Von Papst Benedikt XVI. offiziell eingeweiht, lockt die Sagrada Família, Barcelonas Wahrzeichen, im Dezember mit einem stimmungsvollen Weihnachtsmarkt. Doch in der Stadt gibt es auch noch einige weniger bekannte Meisterwerke des Architekten Antoni Gaudí zu entdecken.

Das gibt es wohl kein zweites Mal: dass eine Großbaustelle, die Millionen von Menschen anzieht, zum Wahrzeichen einer Stadt und Weltkulturerbe der Unesco wurde. Ein solches Kuriosum ist die Sagrada Família in Barcelona. Seit bald 130 Jahren wird an der Kirche gebaut. Die Kräne, Bauzäune und Presslufthämmer gehören zu ihr wie die Touristenbusse, die täglich Tausende von Schaulustigen abladen. Es gibt kaum einen Barcelona-Flyer oder Hotelprospekt, der ohne die vier Türme in Form von tropfenden Wachskerzen auskäme. Jeder will sie sehen. Längst stehen in der katalanischen Hauptstadt andere spektakuläre Bauwerke, die das Zeug zum Wahrzeichen hätten. Norman Fosters Telekommunikationsturm auf dem Hausberg Tibidabo, Santiago Calatravas 136 Meter hoher, strahlend weißer Telefónica-Turm oder Jean Nouvels Torre Agbar, der je nach Tageszeit in wechselnden Rot-Blau-Tönen schillert. Doch nichts scheint die Sühnekirche der Heiligen Familie vom ersten Platz in der Beliebtheitsskala verdrängen zu können.

1882 als Kirche der Armen begonnen und ausschließlich aus Spendengeldern finanziert, ist der Sühnetempel das letzte Werk Antoni Gaudís. 43 Jahre lang arbeitete er an seiner "Predigt aus Stein", lebte zeitweise nur noch auf der Baustelle und entwickelte sich dabei vom mondänen Dandy zum gottesfürchtigen Asketen. Als er 1926 einen Torso aus Krypta, Geburtsfassade und vier Türmen hinterließ, plädierten viele – von Le Corbusier und Walter Gropius bis zum angesehenen Stadtplaner Oriol Bohigas – dafür, den Geniestreich in seinem unvollendeten Zustand zu belassen. Wer könnte es schon mit Gaudís Visionen und seinem technischen Können aufnehmen? Doch die Stiftung, die seit mehr als hundert Jahren die Spendengelder verwaltet, lässt seit 1952 beharrlich weiterbauen.

Endgültig fertig wird die Heilige Familie wohl erst 2026 zu Gaudís 100. Todestag. Inzwischen ist ein wichtiges Etappenziel erreicht: Das Dach ist geschlossen, acht der 18Türme und zwei Fassaden sind fertig. So konnte Papst Benedikt XVI. sie Anfang November auch offiziell als Basilika weihen.

Die Katalanen zeigten sich dabei nicht allzu euphorisch. Abgesehen davon, dass viele mit der Katholischen Kirche nichts mehr zu tun haben wollen, sehen Kritiker in der Heiligen Familie heute ein verkitschtes Gaudiland, das jegliche Spiritualität eingebüßt hat und zu einer riesigen Geldmaschinerie geworden ist. "Von mir aus sollen die Türme in sich zusammenfallen", bringt etwa die Katalanin Silvia Poll die Meinung vieler Barcelonesen auf den Punkt.

Das könnten sie sogar tatsächlich tun. Denn paradoxerweise droht dem Bauwerk in dem Moment, wo es seiner Vollendung nahe kommt, neue Gefahr: Der AVE, der Hochgeschwindigkeitszug von Frankreich nach Barcelona, soll ganz in der Nähe der Kirche durch das Erdreich fahren. Dafür wird ein Tunnel in mehr als 16 Meter Tiefe ausgehoben, der den Sühnetempel gefährdet. Doch die Touristen lassen sich von ihrem Besuch nicht abhalten. Schon gar nicht, wenn in der Adventszeit einer der ganz wenigen Weihnachtsmärkte auf dem großen Platz vor der Kirche lockt.

Doch gibt es für Gaudí-Fans noch jede Menge andere Werke des Genies zu entdecken. Und zwar nicht nur die bekannten – wie die Casa Milà mit ihrer wellenförmigen Fassade oder den Park Güell, der inzwischen so überlaufen ist, dass auch hier demnächst saftige Eintrittsgelder erhoben werden sollen. Kenner schwärmen vielmehr von den Frühwerken Gaudís. Zum Beispiel vom Palau Güell, den der junge Architekt für seinen Mäzen zwischen 1887 und 1890 entwarf. Mit einem kundigen Stadtführer begeben wir uns in die Altstadt nahe dem Hafen, wo zwischen schmuddeligen Läden und anrüchigen Bars das Stadthaus des Grafen steht. Von außen ähnelt es einem venezianischen Palast, im Innern kündigen bizarre Säulen, geschwungene Treppen, florale Eisenarbeiten und eine riesige Kuppel bereits die Handschrift des späteren Genies an. "Diese Architektur unterscheidet sich vollständig von allem, was man bisher in dieser Stadt gesehen hat", kommentierte im Jahr 1891 ein Journalist in "La Illustración Hispano-Americana". Der Überraschungseffekt ist auch 120 Jahre später noch nicht verpufft.

Ebenso wie bei der Finca Güell im Stadtteil Pedralbes, deren Drachentor zu den populärsten Werken Gaudís gehört, oder der Casa Vicens mit ihren orientalisierenden Formen und Kacheln im grün-weißen Schachbrettmuster. Nur beim Colegio Teresiano, dem Mutterhaus des Ordens der heiligen Teresa, muss man genau hinsehen, um in der strengen Festung des Glaubens Anklänge an den Jugendstil auszumachen. "Bei der Villa Bellesguard oder der um 1897 entstandenen Casa Calvet konnte Gaudí dagegen seiner Fantasie wieder freien Lauf lassen", meint Joan, unser Guide. Tatsächlich: Als wir hinter die Außenmauern aus rustikalen Quadern am Carrer Casp 48 blicken, in dem heute ein Feinschmeckerrestaurant mit Kastanien gefüllte Rebhühner, Gänseleber mit Aprikosenpüree oder Rosmarineis auftischt, entdecken wir ein reich verspieltes Innenleben mit geschwungenen Spiegeln, verdrehten Säulen und schmiedeeisernen Gittern. "Hier hat der Architekt erstmals zu dem ihm eigenen Stil gefunden", konstatiert Joan. Doch nichts sei origineller als die Colònia Güell, die Fachleute sogar als gelungenstes Werk des Modernisme-Architekten ansehen und die nicht zufällig in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurde. Zugegeben, es ist etwas mühsam, sich mit U-Bahn oder Taxi in den Vorort Santa Coloma de Cervelló südwestlich des Stadtzentrums zu begeben. Aber der Besuch in der Werkssiedlung der ehemaligen Stofffabrik lohnt. Errichtet hat sie ein Mitarbeiter Gaudís um 1898.

Für das Herzstück, die Kirche, trat dann der Meister selbst an. Zwar konnte er auch sie mangels Geld nicht vollenden – doch nimmt sie vieles von der Sagrada Família vorweg. Säulen in gefährlicher Schräglage verschmelzen mit Gewölbe und Außenmauern. Backstein, Ziegelstein, Keramiken, glasierte Kacheln – alles scheint in Bewegung. Man meint, das Gebäude könnte jeden Moment umkippen. "Doch Gaudí wusste genau, was er tat, als er die gotischen Strebepfeiler, die er als ,Krücken‘ verspottete, durch innovative Stützen ersetzte", klärt uns der Guide auf. Das Resultat ist ein durch und durch organisches Bauwerk. Ein bisschen wie die Sagrada Família im Kleinen. Nur, dass hier nichts hinzugefügt oder verfälscht wurde. Und das Schönste ist: Bei unserem Besuch haben wir sie fast für uns allein.

Barcelona

Stilvoll besichtigen
In Barcelona gibt es zahlreiche Bauten des Architekten Antoni Gaudí (1852–1926). Eine Auswahl:
Sagrada Família, Carrer Mallorca 401, www.sagradafamilia.org, geöffnet Oktober bis März von 9 bis 18 Uhr, April bis September 9–20 Uhr. Im Dezember findet auf dem Vorplatz der traditionelle Weihnachtsmarkt Fira de Nadal statt.
Palau Güell, Calle Nou de la Rambla 3–5, Dienstag bis Samstag 10–14.30 Uhr. Casa Milà, Carrer de Provenca 261–265, Ecke Passeig de Gràcia, November bis Februar, 9–18.30 Uhr.
Casa Batlló, Passeig de Gràcia 43, tägl. 9–20 Uhr.
Casa Calvet, Carrer de Casp 48, das gleichnamige Restaurant ist von 13 bis 15.30 Uhr und von 20.30 bis 23Uhr geöffnet.
Colònia Güell, 15 km außerhalb in Santa Coloma de Cervelló, November bis Mai 10–15 Uhr. Infos zu weiteren Gaudí-Bauten unter www.barcelonaturisme.de. Geführte Gaudí-Touren bietet das Barcelona Guide Bureau an, www.bgb.es.
Buchtipp: Rainer Zerbst, "Gaudí – Sämtliche Bauwerke", Taschen 2005, ca. 35 Euro (antiquarisch).

Stilecht wohnen
Nicht in Gaudí-Bauten, aber in anderen Jugendstilbauten sind auch Hotels untergekommen. Schön wohnt es sich in der von Lluís Domènech i Montaner erbauten Casa Fuster mit Fünf-Sterne-Komfort, www.hotelescenter.com/casafuster. Von demselben Architekten erbaut wurde das Vier-Sterne-Hotel Espanya nahe der Ramblas, www.hotelespanya.com. Das benachbarte, im Jugendstil gestaltete Drei-Sterne-Hotel Oriente war einst ein Kloster, http://husa.hotelsearch.com/oriente.

Allgemeine Informationen
Katalonien Tourismus, Telefon 069/74224873, www.catalunya.com.