Im Bannwald ist die Natur sich selbst überlassen Foto: Duval

Mit Karte - „Eine Spur wilder“ ist das Motto des neuen Nationalparks Schwarzwald. Ein paar Flecken sind heute schon wild. Eine Exkursion zum Bannwald Wilder See, der seit über 100 Jahren sich selbst überlassen ist.

Ruhestein - Kein Laut ist zu hören. Unweigerlich greift man sich an die Ohren. Diese Stille. Unheimlich. Als habe der Wald alle Geräusche verschluckt. Aus der Tiefe steigt Nebel empor. Er wabert zwischen den Tannenkronen und greift wie ein Geist mit bleichen Händen nach den Baumgerippen der Totholzstämme, die am Rande der Karwand bizarr in den Himmel ragen. Wolken hängen wie Grabsteine vom Himmel. Der Szene heftet etwas Mystisches an.

Etwa eine halbe Stunde Fußmarsch vom Ruhestein und der lärmigen Schwarzwaldhochstraße entfernt liegt der Bannwald Wilder See. Keine Motorräder oder Autos sind mehr zu hören. Es ist, als habe sich die Natur ein Paradies geschaffen, in dem sie zur Ruhe kommt. Und mittendrin ruht still der Wildsee, ein Überbleibsel der letzten Eiszeit. Steil ragen die bis zu 125 Meter hohen Karwände empor, als wollten sie den See vor der Welt abschotten und schützen.

Nationalpark Schwarzwald

Überall schimmern silberne Perlen. Es sind Regentropfen, die sich auf Blättern, Farnen und Tannennadeln bilden. Das Bannwaldgebiet zählt zu den niederschlagreichsten Regionen im Schwarzwald. Über Nacht hat der Regen den Wald in einen grünen Urwald verwandelt. Am Boden rollen junge Farne ihre Blätter aus. Alles tropft und trieft. Der einsetzende Regen trifft mit einem leisen Plopp Plopp auf Bäume und Blätter. Zwei Tannenhäher hüpfen auf den Ästen eines kahlen Baums auf und ab.

Fasziniert beobachtet die Wandergruppe, wie die flinken Vögel von Ast zu Ast tanzen, als folgten sie dem Pulsschlag des Waldes, einem unhörbaren Rhythmus. In der Gruppe ist es still geworden. Jedem ist bewusst: An diesem Ort gibt die Natur den Takt vor. Niemand will die Ruhe des Waldes stören.

An diesem verwunschenen Ort gibt die Natur den Takt vor

Wer zum See hinabsteigen will, muss trittsicher sein. „Schwieriger Abgang“ steht auf dem Schild, das den Abstieg zum Wilden See markiert. Der Weg ist bei trockenem Boden anspruchsvoll, durch die nassen Wurzeln und den matschigen Untergrund wird er zur Herausforderung. Nationalpark-Ranger Charly Ebel stimmt die Wanderer auf den Weg ein. Jeder soll ihn langsam und mit Abstand zum Vordermann gehen. Achtsames Gehen, die Natur mit allen Sinnen erfassen, sich auf den Pulsschlag des Waldes einlassen. Der Ranger möchte seine Gruppe für den Wald sensibilisieren. Denn wer mit allen Sinnen begreift, wird ergriffen von der wilden Natur. Keine Gespräche, keine Fotoaufnahmen, bis das Ufer des Sees erreicht ist.

Üppig wuchert neues Leben: Junge Tannenbäume, grüne Farne und Moose, Flechten und Pilze. Eine Welt aus wunderlichen Farben und Formen. Das langsame Gehen und bewusste Wahrnehmen öffnet die Sinne für die Schönheit des Urwalds. Gewaltig ragt die Großvater-Tanne wie ein stummer Wächter in den Himmel. Ihr Alter wird auf über 200 Jahre geschätzt. Wie mag der Wald wohl damals ausgesehen haben, als der Baum heranwuchs? Wie vielen Unwettern und Stürmen hat er getrotzt. Was könnte er alles erzählen? Das Bannwaldgebiet ist Heimat zahlreicher selten gewordener Tiere und Pflanzen. Hier ist der Dreizehenspecht anzutreffen ebenso wie die Urwald-Käuze Raufußkauz und Sperlingskauz.

Der Wildsee ist vollkommen still, auf seiner Oberfläche spiegeln sich die Tannen wider. Es ist ein Spiegelbild der wilden, rauen Schönheit dieses Orts. Die Ruhe des Sees überträgt sich auf die Anwesenden. Ein Windstoß streicht über den See, kräuselt das Wasser, lässt die Tannen verschwimmen. Kurz darauf ist der See wieder still, als wäre er seit 1000 Jahren unberührt.

Die Ruhe des Sees überträgt sich auf die Anwesenden

Charly Ebel schart die Gruppe um sich, erzählt von den Entwicklungsphasen des Urwalds, von Zerfallphasen, in denen die abgestorbenen Bäume vor allem durch Pilze in ihre Grundbausteine zerlegt werden. Das schafft wertvolle Nährstoffe für die nächste Generation von Wald, die hier heranwächst. „Die Pilze sind die heimlichen Herrscher des Waldes“, sagt Ebel. 2010 konnte der Tannen-Stachelbart im Bannwald nachgewiesen werden. Der Pilz ist sehr selten und lebt ausschließlich an starkem Tannen-Totholz.

Am frühen Abend kehrt die Gruppe auf der Darmstädter Hütte ein. Sie liegt auf 1030 Metern mitten im Nationalpark und ist nur zu Fuß erreichbar. Die Regenwolken sind weitergezogen. Nach dem Abendessen lädt Charly Ebel zu einem Spaziergang ein. Das Licht der Abendsonne legt sich wie ein goldener Schleier über die Heidelbeersträucher der baumfreien Grinden. Es ist typisches Auerhahngebiet. Die scheuen Urvögel des Schwarzwalds leben auf lichten und totholzreichen Flächen. Auerhühner ernähren sich von Beeren, Blüten und Blättern. Die Heidelbeere ist für das Auerhuhn lebensnotwendig. Ein ausgewachsener Auerhahn vertilgt täglich bis zu zwei Kilogramm Heidelbeeren. Während der Balzzeit von März bis Juni ist der Testosteronspiegel der Hähne um ein Hundertfaches seines Normalwerts erhöht. Balzende Hähne sind äußerst aggressiv und greifen sogar Menschen an.

Ebel sucht das Gebiet mit seinem Feldstecher ab. Tatsächlich, er hat einen Auerhahn erspäht und gibt der Gruppe ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten. Die dunklen Schwanzfedern heben sich deutlich von den von der Sonne beschienenen Heidelbeersträuchern ab. Plötzlich ist lautes Flügelschlagen zu hören. Der Auerhahn hebt ab, schwerfällig wie ein überladenes Flugzeug. Trotz ihrer Flügelspannweite von fast einem Meter sind sie alles andere als Flugkünstler. Schleppend landet der Hahn nur unweit von der Gruppe. Will er sein Revier verteidigen? Doch die Balzzeit ist vorbei und der Vogel zeigt keine Anzeichen von Aggressivität. Er scheint neugierig und bewegt sich leichtfüßig und flink durch das Heidelbeergestrüpp, als wüsste er, dass ein Auerhahn im Abendlicht ein ziemlich geniales Fotomotiv ist.