Rudolf Frank (re.) brennt sichtlich für seinen Bäckerchor Foto: Sägesser

Ein Chor der besonderen Art übt seit Neuestem in einem Vereinslokal auf der Waldau.

Stuttgart-Degerloch - Bäcker sind pünktliche Gesellen. Um 17.30 Uhr sind so gut wie alle Plätze besetzt. Die Männer wollen keine Zeit verlieren, schließlich haben sie nur eine gute Stunde, dann sind die Frauen dran. Das Viertele steht bereit, um die Sängerkehle zwischendurch zu schmieren, einer vespert noch rasch ein Käsebrot. Der Rest stimmt sich ein. „O-o-o-o“ und „A-a-a-a.“ Dann „Hallo – hallo“ und „heute Schnee“. Beim Bäckerchor geht’s spaßig zu.

Der Philia Chor der Stuttgarter Bäcker, wie sich die Sänger ausgeschrieben nennen, ist ein Degerlocher Neuzugang. Seit Anfang Januar proben sie bei „Kaya“, dem Vereinslokal der SV Eintracht. Mit dem Wirt der bisherigen Übungsstätte hat es nicht mehr harmoniert, also haben die Bäcker ihren Flügel und die beiden Notenschränke eingepackt und sind auf die Waldau gezogen. Immer wieder montags trällern sie jetzt unterm Fernsehturm. Zurzeit bereiten sie sich auf den Stuttgarter Frühlingsball vor, eine Veranstaltung mit Tradition in der Liederhalle.

Kurz vor der Probe fuchtelt Rudolf Frank – stadtweit bekannt für seine Brezeln – mit den Armen, während er von seinem Chor berichtet. Der Vorsitzende brennt sichtlich für die Sängertruppe. Doch so lebendig der 72-jährige Frank auch erzählen mag, das ändert einen Umstand nicht. Der Bäckerchor wird alt. Auf den drei Stuhlreihen im Degerlocher Vereinslokal sitzen lauter Pensionäre. Der Letzte unter ihnen hat sich Anfang des Jahres aus der Backstube verabschiedet. „Heute ist man froh über jede Sängerin und jeden Sänger“, sagt er. Trotzdem, Rudolf Frank ist nicht der Typ für Trübsal. Lieber erzählt er aus der Geschichte des Vereins. Dass das Radio, das im Hintergrund dudelt, Empfangsstörungen hat, stört ihn dabei nicht. Nachher, wenn die anderen zur Probe kommen, wird es eh abgestellt, sagt er.

Heute sind Bäckerchöre ein Relikt

Der Stuttgarter Bäckerchor hat sich anno 1880 gegründet. Der Anlass war ein einfacher: In anderen Chören sang es sich schlecht, sagt Frank. Der Uhrzeit wegen. Während Angehörige anderer Berufssparten problemlos bis spät in den Abend hinein proben, ist bei den Bäckern dann längst Schlafenszeit, sagt Rudolf Frank. Sein Wecker habe schließlich bereits um 2.30 Uhr geklingelt. Der Chor der besonderen Art brachte übrigens noch einen anderen Vorteil: Nach dem Singen haben sich die Bäcker ausgetauscht – über Rezepte, Mehlqualität und Backtemperaturen. Von Konkurrenzdenken anscheinend keine Spur. „Da stehe ich drüber“, sagt Frank.

Heute sind Bäckerchöre ein Relikt. Rudolf Frank kennt das noch anders. Früher, erzählt er, habe es in Stuttgart vier solcher Zusammenschlüsse gegeben. Kein Wunder, in den Fünfzigern habe die Zahl der Bäckerbetriebe bei 600 gelegen, aktuell seien gerade einmal 36 bei der Innung gemeldet.

„Zum Fernsehturm – zum Fernsehturm“, schallt es durchs Vereinslokal. Der Dirigent Wilfried Warth gibt die Töne auf dem Flügel vor. Er schimpft, weil sich ein paar Bässe eingemischt haben. „Jetzt wirklich nur die Tenöre“, sagt er. „Und die Pausen beachten, das sind diese Haken da.“ „Hereinspaziert – hereinspaziert.“