Erfolgreich mit ihren Drehbüchern: Julia Penner Foto: Sven Serkis

In der brisanten ARD-Serie „37 Sekunden“ erzählt die Autorin Julia Penner von einem sexuellen Übergriff. Im Interview erklärt sie, warum sie die Story als Familiendrama angelegt hat und was es mit der „Schlampentaktik“ vor Gericht auf sich hat.

Die Idee für „37 Sekunden“ hatte Autorin Julia Penner schon vor der Metoo-Debatte über sexuelle Gewalt. In ihrer Serie erzählt sie den Übergriff jedoch nicht aus Sicht des Opfers, sondern stellt dessen beste Freundin ins Zentrum. Im Interview spricht sie über ihre Motive und sagt zudem, warum sie die Vergewaltigungsszene nicht ausgespart hat.

Frau Penner, in Ihrer Serie bezichtigt eine junge Musikerin ihren deutlich älteren prominenten Mentor und Geliebten der Vergewaltigung. Erzählen Sie mit „37 Sekunden“ also eine klassische Metoo-Geschichte?

Tatsächlich hatte ich die Idee bereits 2015, als von Metoo noch keine Rede war; der Skandal um den Filmproduzenten Harvey Weinstein wurde erst im Herbst 2017 publik. Anhand eines Übergriffs wollte ich die Frage stellen, ab wann aus Sex eine Vergewaltigung wird.

Wie waren die ersten Reaktionen?

Ich habe den Stoff 2016 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin im Rahmen des europäischen Weiterbildungsprogramms „Serial Eyes“ entwickelt. Die Dozenten waren skeptisch, ob die Grundidee für eine Serie reicht. Ein halbes Jahr später kam Metoo, und alles hat sich verändert.

Hätten Dozentinnen anders reagiert?

Das weiß ich nicht. Es spielt ja auch eine Rolle, ob jemand so etwas selbst erlebt hat. Bei Metoo ist erst später klar geworden, dass sich solche Delikte durch die gesamte Gesellschaft ziehen, weil wir in Strukturen leben, die derartige Übergriffe unterstützen. Man denkt zwar unwillkürlich immer erst mal an Frauen, aber natürlich betrifft das auch Männer.

Zentrale Figur ist aber nicht das Opfer, Leonie, sondern die beste Freundin, Clara. Warum?

Jede vierte sexuelle Belästigung findet im Bekannten- oder Freundeskreis statt, aber diese Vorfälle werden so gut wie nie zur Anzeige gebracht. Deshalb habe ich mir die Frage gestellt: Warum unternehmen die Freunde und Angehörigen nichts? Clara ist anfangs uneingeschränkt auf der Seite ihrer Freundin, bis sie erfährt, dass es sich bei dem Täter um ihren eigenen Vater handelt.

Warum wechselt sie in diesem Moment so vorbehaltlos die Seite?

Dieser Umschwung war das Ergebnis meiner Gespräche mit einer Fachanwältin für Strafrecht: Wenn Familienmitglieder nicht mit eigenen Augen gesehen haben, was vorgefallen ist, können sie sich das Ereignis nicht vorstellen; vielleicht wollen sie es auch nicht wahrhaben. In der Serie geht es nicht zuletzt um Loyalität. Clara ist in erster Linie damit beschäftigt, ihre Familie zusammenzuhalten, hat aber natürlich gegenüber ihrer Freundin Leonie ein schlechtes Gewissen, weshalb sie selbst in eine Krise stürzt.

In vergleichbaren Produktionen wird die Schlüsselszene meist ausgespart, damit möglichst lange offenbleibt, was wirklich vorgefallen ist. Weshalb haben Sie sich dafür entschieden, die Vergewaltigung zu zeigen?

Wenn man die Szene nicht zeigt, geht das Publikum erfahrungsgemäß vom Schlimmsten aus, außerdem hätte sich die Serie dann in Richtung Krimi entwickelt. Wir wollen aber, dass sich das Publikum mit diesem Vorfall auseinandersetzt. Man sieht zunächst zwei Menschen, die die Finger nicht voneinander lassen können, doch dann kippt die Stimmung. Die Anwältin hat bestätigt, dass der Vorfall trotzdem vor Gericht Hand und Fuß hätte.

Warum ist es in solchen Momenten so schwierig, eine klare Grenze zu ziehen?

So etwas ist in Liebesbeziehungen doch generell nicht einfach. Wenn ein Partner Lust auf Sex hat, der oder die andere aber nicht, kann das leicht zu einer Kränkung führen; deshalb macht man vielleicht mit, obwohl man gar nicht will. Die Serie soll daher auch dazu anregen, dass Paare darüber nachdenken, wie sie Intimität kommunizieren.

War es Ihnen deshalb wichtig, einen männlichen Kollegen hinzuzuziehen?

Ich bin froh und dankbar, dass David Sandreuter gleichberechtigt am Drehbuch mitgewirkt hat, aber nicht, weil er ein Mann, sondern weil er ein begabter Autor ist. Allerdings hat er dafür gesorgt, dass Carsten, Leonies Geliebter, nicht von vornherein verurteilt wird, sondern seinerseits Empathie weckt.

Gab es für den Entwurf dieser Rolle, die von Jens Albinus verkörpert wird, reale Vorbilder?

Tatsächlich sollte der Mann zunächst ein Politiker sein, aber das haben wir verworfen, weil wir zu diesem Zeitpunkt noch dachten, dass man einem Politiker eher eine Vergewaltigung zutraut als einem integren Musiker. Zudem eignet sich Musik perfekt, um Gefühle zum Ausdruck zu bringen; Carsten und Leonie sind zu Beginn ja auch ein Liebespaar. Also haben wir aus Carsten einen Sänger gemacht, der ein politisches Bewusstsein hat und ähnlich viel Anerkennung genießt wie zum Beispiel Herbert Grönemeyer.

Schon vor dem abschließenden Prozess befürchtet Leonies Anwältin, die Gegenseite werde die „Schlampentaktik“ anwenden. Was heißt das?

Auch das ist uns von der Anwältin bestätigt worden: Die Vergangenheit wird regelrecht durchforstet, gerade das Sexualleben wird durchleuchtet; man versucht alles, um das Opfer zu diskreditieren. Dabei handelt es sich um eine Schuldumkehr: Plötzlich wird nicht mehr der Täter, sondern das Opfer beschuldigt. Bei Vergewaltigungsfällen bringt die Verteidigung oft solche Argumente vor: „Sie war aufreizend gekleidet, sie stand unter Alkohol, sie hat mehrere Partner.“ Ziel ist die Dekonstruktion der Glaubwürdigkeit des Opfers, um auf diese Weise die Unschuld des Täters zu beweisen. Das ist einer der Hauptgründe, warum so wenige Fälle zur Anzeige kommen.

Drehbücher für Fernsehen und Kino

Person
Julia Penner hat nach einem Schauspielstudium an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch (HfS) zunächst am Schauspielhaus Frankfurt gearbeitet, bevor sie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) ein Drehbuchstudium begann. Sie war unter anderem Chefautorin der Webserie „Druck“ für funk, das ARD/ZDF-Onlineangebot für junge Erwachsene. Zuletzt war sie maßgeblich am Drehbuch zu der kürzlich ausgestrahlten Dragqueen-Krimikomödie „Meine Freundin Volker“ (ARD) beteiligt. Derzeit entwickelt sie neben Serienstoffen einen Kinofilm. Penner lebt und arbeitet in Berlin und Zürich.

Termin
Das „Erste“ zeigt „37 Sekunden“ am 15. und 22. August um 22.50 Uhr, die Serie steht komplett in der ARD-Mediathek.