An Deutschlands Autobahnen liegen 40 Kirchen. Am Sonntag wird in Schwäbisch Hall die nächste eröffnet. Wer geht dorthin, und sind die Gotteshäuser noch zeitgemäß? Eine Spurensuche zwischen Temporausch und Ruhephase.
Adelsried - Die Abfahrt zu Gott war nicht ganz freiwillig. Geduldig kramt der ukrainische Lkw-Fahrer nach seinem Lieferschein. Zwischen München und Augsburg hat ihn eine Streife herausgewinkt, A 8, Ausfahrt Adelsried. Dass der Parkplatz vor Deutschlands ältester Autobahnkirche liegt, kann man für einen Zufall halten. Oder Schicksal. Je nachdem, wie man es mit dem Glauben hält. Der Lkw-Fahrer hat sich entschieden, die Zwangspause zu nutzen. In Pantoffeln schlurft er in die Kirche, bekreuzigt sich, kniet nieder und senkt den Kopf. Kein Wort, keine Beichte – einfach nur Stille. Ein paar Sekunden vergehen, bevor sich der Mann wieder erhebt. Ein flüchtiger Blick auf das Kruzifix, dann steigt er wieder in seinen Lkw.
In der Kirche sitzt ein groß gewachsener, stämmiger Mann zwischen Rosenkränzen und Infobroschüren. Pater Wolfram Hoyer hält sich gerne im Hintergrund. „Ich pastoriere nicht“, sagt der 45-jährige Dominikanerbruder, der das Gotteshaus seit acht Jahren leitet. Im Sommer sitze er meist draußen, mit einer Pfeife im Mund und einem Buch in der Hand. „Manchmal ist außer mir und Gott niemand da.“ Aber selbst wenn viel los sei, komme er beim Lesen gut voran: „Die Leute wollen ihre Ruhe, wenn sie in die Autobahnkirche kommen.“
Das Haus ist klein und effizient, eine typische Nachkriegskonstruktion mit viel Glas. Eingeweiht wurde es am 12. Oktober 1958, finanziert durch den Augsburger Papierfabrikanten Georg Haindl. Der Unternehmer hatte sich gewundert, dass in Bayern an fast jeder Ecke ein Kreuz steht – nur nicht an den Autobahnen. Mit seiner Idee traf Haindl den Nerv der Zeit: Die Kirche wurde „noch vor ihrer Weihe von einem Besucheransturm überrollt“, heißt es in der Chronik, von „mindestens 1000 Fahrzeugen“ ist die Rede. Die Fotos zeigen einen proppenvollen Parkplatz: Käfer neben Käfer, Stoßstange an Stoßstange. Und heute? Steht nur das Auto des Paters vor der Kirche. „Täuschen Sie sich nicht“, sagt Hoyer, „hier ist mehr los, als Sie denken.“ Tatsächlich treten innerhalb der nächsten halben Stunde sechs Personen ein. Die Versicherer im Raum der Kirchen (VRK), die sich in der Freizeit-, Tourismus- und Notfallseelsorge engagieren und das Internetportal „Autobahnkirche.info“ betreiben, berichten von einem regelrechten Autobahnkirchen-Tourismus.
Die „durchschnittliche Verweildauer“ in einer Autobahnkirche beträgt zehn Minuten, wie eine Studie des Zentrums für kirchliche Sozialforschung an der Katholischen Hochschule Freiburg herausfand. Es kommen vor allem die, die ohne Begleitung fast nie in Kirchen gehen – Männer. Von Kurzentschlossenen profitieren die Autobahnkirchen am meisten. Ein Coffee to go, ein Stoßgebet, weiter geht’s. „Die Zeiten sind schnelllebiger geworden“, sagt Michael Zimmer. Der 48-jährige Pfarrer leitet die Autobahnkirche St. Christophorus in Baden-Baden, die meistbesuchte Einrichtung dieser Art mit über hunderttausend Besuchern im Jahr. Für Zimmer hat der Drive-in-Charakter etwas Positives: „Die Leute können aus ihrer Hektik heraustreten, und wenn es nur für fünf Minuten ist.“
Im Norden sind die „Rastplätze für die Seele“ rar gesät
Die „Rastplätze für die Seele“ – so der offizielle Slogan – sind quer über die Republik verteilt.Nur im Norden ist es mit der Frömmigkeit nicht ganz so weit her. Wer zwischen Hamburg und Berlin unterwegs ist, sollte vorher zu Hause beten. Ansonsten ist die Auswahl groß: 18 evangelische, acht katholische und 14 ökumenische Autobahnkirchen stehen zur Auswahl – vom platzsparenden Tipi (Autohofkapelle Kirchheim, A 7) bis zum viergeschossigen Neubau (Autobahnkirche Geiselwind, A 3). Manche Autobahnkirchen finanzieren sich nur durch Spenden (Adelsried), andere werden von Diözesen getragen (Baden-Baden). Auch ihre Entstehungsgeschichten sind höchst unterschiedlich: Mal werden sie gebaut, um einen Rastplatz zu verschönern, mal um Besucher in eine verwaiste Dorfkirche zu locken.
Ganz unproblematisch ist das nicht immer. So dürfen die Drive-in-Kapellen maximal einen Kilometer von einer Autobahnabfahrt entfernt liegen. Als in Brehna ein Autobahnkreuz neu gestaltet wurde, erhöhte sich die Entfernung auf 1,6 Kilometer – seither gilt dort eine Ausnahme. Doch während Christen unterwegs gut versorgt sind, haben es Muslime und Juden schwerer. Moscheen, Synagogen oder universelle Gebetsräume findet man an Autobahnen nicht. Dabei könnten die Autobahnkirchen Zuwachs gebrauchen. Immerhin sind zwei Drittel ihrer Besucher über 50 Jahre alt, so die Studie aus Freiburg. An übermäßigem Schwund leiden die Autobahnkirchen dennoch nicht, denn der Verkehr nimmt stetig zu, darunter viele Lkw aus dem Ausland. Die Fahrer kommen aus Italien, Polen und Spanien. Ihre einzige Gemeinsamkeit: der Glaube.
„Man begegnet Menschen, die sonst nicht in die Kirche gehen“, sagt Zimmer. Sein Kollege in Adelsried berichtet von ähnlichen Erlebnissen: Anzugträger, die nach der Lehman-Krise im Porsche vorgefahren kamen. „Costa Concordia“-Überlebende auf der Durchreise. Verlorene Schafe. Sie alle scheuen den Dorftratsch, bevorzugen die Anonymität in der Fremde. Oder wollen einem natürlichen Bedürfnis nachgehen. „Dass Autobahnkirchen mit einer Toilette ausgestattet sind, ist nicht unwichtig“, betont Hoyer. Viele Besucher haben aber auch konkrete Wünsche. „Lieber Gott, lass uns einen schönen Urlaub verbringen“, hat jemand ins Anliegenbuch geschrieben. Ein paar Seiten weiter: „Beschütze unseren Hund im Himmel.“ Und darunter in krakeliger Kinderschrift: „Diese Kirche ist einfach aba schön.“
Der Nachteil der Unverbindlichkeit zeigt sich beim Blick auf die angeketteten Kerzenständer. „Hier wird alles geklaut, was nicht niet- und nagelfest ist“, erzählt Hoyer. Seine Kirche ist 365 Tage im Jahr rund um die Uhr geöffnet. Wenn er nicht da ist, gibt es niemanden, der nach dem Rechten sieht. Einmal wurde der Altar mit Fäkalien beschmiert. Der Pater seufzt – nicht gerade christliches Verhalten.