Dietmar Zöller liebt es, zu reisen und fremde Kulturen kennenzulernen – hier ist er in Pokhara, Nepal Foto: Zöller

Autismus: Ein Betroffener aus Leinfelden-Echterdingen gewährt Einblicke in sein Leben.

Autismus wird in ICD 10, der international gültigen Klassifikation psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation WHO, als eine tiefgreifende Entwicklungsstörung beschrieben. Ein Betroffener gewährt Einblicke in sein Leben als Kind und als Erwachsener.

Frau B. interessiert sich für das Thema Autismus. Sie möchte mehr darüber wissen. Sie schreibt mir: "Ich habe Kontakt zu einem kleinen Jungen (Sohn einer Bekannten), der als autistisch und zurückgeblieben gilt - der aber nach einer Gewöhnungszeit sich bei Besuchen immer auf meinen Schoß setzt (anfassen darf ich ihn allerdings nicht) und mit mir malt und auch mit mir spricht. Er hat eine blühende Fantasie und ist sehr lustig, wir verstehen uns gut. Ist es vielleicht auch eine Frage der Distanz?"

Schreibend eine Ordnung erschaffen

Da es mir wichtig ist, dass autistisches Verhalten besser verstanden wird, schreibe ich folgenden Brief:

"Sehr geehrte Frau B., für mich war es lange Zeit unmöglich, etwas aus eigenem Antrieb zu tun. Und das Sprechen gelang nur mit allergrößter Mühe. Allein meine Mutter verstand mein Gestammel, nachdem die Sprachanbahnung zum Spracherwerb geführt hatte.

Schreiben wurde eine Befreiung für mein autistisches Dasein. Die damit verbundenen neuromotorischen Probleme ließen sich nicht anders überwinden als durch eine Berührung meines Handrückens, später des Unterarms. Ich schrieb ab meinem siebten Lebensjahr und konnte dadurch meine chaotischen Erfahrungen strukturieren.

Weil ich früh zu schreiben begann, lernte ich schreibend, meine falsch gesteuerten Wahrnehmungen zu ordnen und später eine Ordnung in meine Gefühle zu bekommen. Etwas schriftlich niederzulegen ist nur möglich, wenn man eine Struktur herstellen kann. Aus meinem Wahrnehmungs- und Gefühlschaos erschaffte ich schreibend eine Ordnung, die mir half, mich angepasst verhalten zu können.

Ich erlebe meine Isolation als schmerzlich

Wie ich die Realität erlebe, ist bis heute ungewöhnlich und befremdlich. Wie gesunde Menschen denken, erleben und empfinden, lernte ich aus der Literatur. Sehr geehrte Frau B., das mag Ihnen alles sehr fremd vorkommen, vielleicht sehen Sie noch keinen Zusammenhang mit Ihrem kleinen Freund. Achten Sie mal darauf, wie der Junge auf das reagiert, was er sieht und hört. Hält er sich vielleicht manchmal die Ohren zu? Guckt er Sie an?

In aller Kürze will ich versuchen zu beschreiben, was aus mir geworden ist. Als nun 40-Jähriger bin ich wissbegierig, abenteuerlustig, möchte fremde Kulturen kennenlernen. Ich kann aber nicht leugnen, dass ich auch als Erwachsener wegen autistischer Verhaltensweisen auffalle. Ich brauche eine ständige Begleitung. Ohne meine Eltern kann ich nicht verreisen.

Welche Schwierigkeiten ich immer noch habe, wird, wenn wir unterwegs sind, überdeutlich: Wenn andere andächtig vor einer Sehenswürdigkeit ausharren, muss ich hin und her laufen, weil ich sonst das Gleichgewicht verliere. Was ich sehe und höre, passt oft nicht zusammen, wird schnell zum Chaos. Um das Wahrgenommene verarbeiten zu können, muss ich erst mal bewusst eine Hierarchie herstellen. Was ist wichtig, was ist weniger wichtig? Ich brauche für diese intellektuelle Leistung alle Kraft, die ich zur Verfügung habe. Kein Wunder, dass ich während einer Indienreise im August dieses Jahres immer wieder ins Hotel fliehen musste, um neue Kraft für neue Eindrücke zu tanken.

"Ich erlebe meine Isolation als schmerzlich"

,Nichts geht automatisch', diesen Satz habe ich vor 20 Jahren geschrieben, und keiner hat ihn wirklich verstanden. Ich meinte damit, dass ich alles, was ich tue, vorher denken muss. Ich kann nichts nebenbei erledigen, nicht einmal den Toilettengang. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von autistischen Autoren, die ähnliche Erfahrungen beschreiben. Nichts läuft automatisch ab. Das gilt bei mir auch für das Sprechen; denn zum Sprechen gehört der motorische Akt, und dazu gehört die Regulierung der Atmung. Gesunde Menschen machen sich darüber keine Gedanken, bei ihnen läuft so etwas unbewusst ab. Ich hatte die größte Mühe damit, mir die motorischen Abläufe beim Sprechen einzuprägen. Ich konnte als Kind die Wörter gut behalten, aber nicht, welche Bewegungen ich mit meinen Mundmuskeln, mit den Lippen und der Zunge, vornehmen musste.

Vor einigen Jahren fanden Wissenschaftler in den USA heraus, dass Kinder mit Autismus bei motorischen Aufgaben vorrangig einen Bereich des Gehirns benutzen, der für willentliche, zielgerichtete Bewegungen verantwortlich ist, während normal entwickelte Altersgenossen eine Region des Gehirns aktivieren, die für automatisch ablaufende motorische Aufgaben zuständig ist. Kinder mit Autismus zeigten weniger Verbindungen zwischen verschiedenen Regionen des Gehirns, die normalerweise bei einer koordinierten motorischen Aktion beteiligt sind. Dr. Stewart H. Mostofsky, Kinderneurologe am Kennedy-Krieger-Institut in Baltimore sagte: ,Wenn die verminderte Konnektivität das zentrale Problem beim Autismus ist, macht es Sinn, dass soziale und kommunikative Fähigkeiten stark beeinträchtigt sind, weil dafür viel komplexere Koordination zwischen weit auseinander liegenden Hirnregionen nötig ist (...).'

Auf gutmeinende Annäherungsversuche meiner Mitmenschen kann ich bis heute nicht angemessen mimisch und gestisch reagieren, so dass ich den Eindruck erwecke, als wolle ich keinen Kontakt. Was wie eine selbst gewählte Isolation aussieht, ist nicht selbst gewählt. Ich erlebe meine Isolation als schmerzlich und würde gern auf Menschen zugehen, wenn ich es könnte.

Denn: Ich interessiere mich für andere Menschen und ihre Schicksale."