Unter den in Basel gezeigten Selbstbildnissen von Egon Schiele ist auch dieses "Selbstporträt mit an die Brust gelegten Händen" von 1910 Quelle: Unbekannt

Die Ausstellung "Wien 1900" zeigt in Riehen bei Basel den Aufbruch in die Moderne. 

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts existierten in keiner anderen europäischen Metropole zwei so gänzlich unterschiedliche geistige und kulturelle Welten nebeneinander wie in Wien. Diese Zeit macht die Ausstellung "Wien 1900" auf spannungsvolle Weise lebendig.

In Schloss Schönbrunn regierte ein Kaiser, der vom Gottesgnadentum überzeugt war und sich als väterlicher Monarch seines Vielvölkerstaats sah; im Erzbischöflichen Palais neben dem Stephansdom residierte mit Kardinal Gruscha ein Kleriker, der im Liberalismus und Sozialismus die Verkörperung des Satan auf Erden zu erkennen glaubte; die Erfolgsautoren der Zeit waren Heimatdichter wie Ganghofer oder Anzengruber, die akademische bildende Kunst war immer noch vom Dogma eines naturalistischen Historismus in der Nachfolge Hans Makarts geprägt.

Gustav Klimt und Egon Schiele sind die Hauptprotagonisten

Jedoch nur wenige Tramhaltestellen von der Residenz Kaiser Franz Josephs entfernt lebte und arbeitete in der Berggasse 19 der Neurologe Sigmund Freud und begründete mit der Psychoanalyse eine der geistesgeschichtlichen Grundfesten der Moderne. Ein anderer "Moderner", der unglückliche Philosoph Otto Weininger, der mit seinem Bestseller "Geschlecht und Charakter" die existenzielle Zerrissenheit des Menschen im zwanzigsten Jahrhundert präfigurierte, setzte seinem Leben 1903 in der Schwarzspanierstraße 15, kaum einen Steinwurf von Freuds Wohnung entfernt, ein Ende. Sieben Jahre lang lebte Leo Bronstein, der sich später Trotzki nennen sollte, in der Kaiserstadt, und heckte, vorzugsweise im Café Central sitzend, die Oktoberrevolution aus. Wien, das ist um 1900 ein Hort der politischen Reaktion, des gesellschaftlichen Konservativismus und der kulturellen Traditionspflege, jedoch gleichzeitig auch das kreativste Versuchslabor der Moderne in Europa.

Die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel stellt in einer opulenten Ausstellung Wien als eine der Geburtsstätten der modernen Kunst dar. Die zeitlichen Eckpunkte der Schau sind das Jahr 1898, in dem die erste Ausstellung der Wiener Secessionisten stattfand, und das Jahr 1918, in welchem mit Gustav Klimt, Egon Schiele, Otto Wagner und Koloman Moser vier Hauptmeister der Wiener Moderne starben und das alte Österreich - die "Welt von gestern", wie Stefan Zweig sie nannte - am Ende und als ein Ergebnis des Ersten Weltkriegs unterging.

Gustav Klimt (1862-1918) und der eine Generation jüngere Egon Schiele (1890- 1918) sind die beiden künstlerischen Hauptprotagonisten der Ausstellung.

Gesamtkunstwerk als zentraler Begriff der Wiener Moderne

Klimts flächiger, gegenständliche Motive mittels ornamentaler Überformung in die Abstraktion überführender Individualstil wird in Basel weniger mit seinen monumentalen Figurenbildern belegt als mit Porträts wie der "Tänzerin" (1916/18), in dem der Raum und die dargestellte Frau vom Dekor fast vollständig überwuchert werden, oder den großartigen Landschaftsgemälden, in denen Klimt, wie 1901 in seiner Darstellung des Attersees, die Grenzen zwischen Wasser, Land und Luft aufhebt, ohne die topografische Fassbarkeit der Landschaft aufzugeben.

Egon Schiele ist mit 20 Gemälden und rund 50 Zeichnungen prominent vertreten, sein "Selbstbildnis mit gesenktem Kopf" (1912) ist ein für das Lebensgefühl von Dekadenz, Selbstinszenierung und Ästhetizismus im Wien am Vorabend des Ersten Weltkriegs paradigmatisches Gemälde. Seine den thematisch ähnlichen Arbeiten Klimts in einem "erotischen Kabinett" gegenübergestellten Zeichnungen und Aquarelle verquicken Sexualität und Verfall, Eros und Thanatos zu einem verstörenden Amalgam von Anziehung und Schrecken.

Gesamtkunstwerk als zentraler Begriff der Wiener Moderne

Als ein genialer Porträtist wird Oskar Kokoschka (1886-1980) präsentiert, der hinter die Gesichter der Dargestellten zu blicken vermochte und wie mit einem Seziermesser als ein unbestechlicher Psychologe das Innerste der Persönlichkeiten auf die Leinwand brachte.

Von zentraler Bedeutung für das Kunstverständnis der Wiener Moderne war der Begriff des Gesamtkunstwerks, der besagte, das die bildenden und die angewandten Künste sowie die Architektur einem gemeinsamen Gestaltungsprinzip verpflichtet sein sollten. Sämtliche Details der Gestaltung - beispielsweise einer Wohnungsinnenausstattung - sollten der Wirkung des Ganzen untergeordnet werden, und, mehr noch, der Alltag aller Menschen sollte von Kunst durchdrungen werden.

Deshalb werden in der Ausstellung zahlreiche Objekte der Wiener Werkstätten gezeigt: Möbel, Silbergegenstände, Glas, Schmuck, Mode und Buchkunst jener Produktionsgemeinschaft, die sich durch Experimentierfreude, höchste Qualitätsansprüche und konsequente Materialtreue auszeichnete.

Ein besonders eindrückliches Beispiel für das gelungene Zusammenspiel verschiedenster Kunstgattungen im Dienste eines Gesamtkunstwerks und der qualitätsvollen Ausführung jedes einzelnen Details war die Ausstattung des an der Kärntnerstraße 33 gelegenen Kabaretts "Fledermaus", das ein Hauptmeister der Wiener Werkstätten, Josef Hoffmann (1870-1956), 1907 konzipierte. Aus der "Fledermaus" werden so unterschiedliche Objekte wie Gulaschschüsseln, Besteckteile und Aschenbecher aus versilbertem Alpaka, ein Stuhl, ein Faltfächer oder ein Plakat gezeigt. Die Gegenstände bezeugen den Stilwillen der Wiener Modernen, der Klarheit und Funktionalität anstrebte und künstlerische Bewegungen des 20. Jahrhunderts wie De Stijl oder das Bauhaus nachhaltig beeinflusste, mit der Idee des Gesamtkunstwerks aber noch heute in aktuellen künstlerischen Konzepten beispielsweise von Zaha Hadid oder Tobias Rehberger weiterlebt.