Eveline Blohmer hängt am Überhang. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

In loser Folge versuchen sich Blick-vom-Fernsehturm-Redakteure in verschiedenen Dingen – ob ganz Alltägliches oder Außergewöhnliches. Eveline Blohmer hat das Bouldern im Kletterzentrum Stuttgart ausprobiert.

Degerloch - In den nächsten zwei Stunden werde ich dazu aufgefordert, mich an einer Schwarte festzuhalten. Es wird gespottet werden. Meine Muskeln werden bewertet und meine Hüfte wird begutachtet werden. Und ich werde meine Ehe riskieren. Glücklicherweise kann ich das nicht ahnen, als ich mich auf den Weg zum Degerlocher Friedrich-Strobel-Weg 3 mache. Denn es wird sich lohnen – so sehr, dass ich noch Tage danach die Schmerzen in Armen, Beinen, Fingerkuppen und etlichen anderen Stellen meines Körpers mit stoischem bis heroischem Lächeln hinnehme.

Das liegt nicht zuletzt an Gerhard Lorch. Ich solle an der Empfangstheke nach „Charlie“ fragen, wenn ich im Kletterzentrum des Deutschen Alpenvereins auf der Waldau angekommen bin, hatte dessen technischer Geschäftsführer gesagt. Unter seinem richtigen Namen kenne ihn dort niemand. Guten Mutes betrete ich die holzverkleidete Halle. Vor meinem inneren Auge laufen noch einmal die vorab angeschauten Internetvideos zum Thema Bouldern ab: sehnige Körper, die sich spinnenartig und affengleich an senkrechten oder gar überhängenden Wänden entlang bewegen, indem sie die farbigen Module geschickt und ihre Muskeln noch geschickter einsetzen. Ihnen werde ich es heute gleichtun. Ha! Mein zweiter Vorname wird Gämse sein. Immerhin gab es für mich in der Kindheit kaum etwas Besseres, als Bäume zu erklimmen. Dass ich erst einmal in meinem bisherigen Leben das Sportklettern ausprobiert habe und meine Muskeln in den vergangenen Monaten nicht viel mehr leisten mussten, als mich einigermaßen aufrecht am PC zu halten, ignoriere ich gekonnt.

Klettern ohne Seil und Gurt

Gerhard „Charlie“ Lorch empfängt mich im Seminarraum des Kletterzentrums. Am liebsten würde ich gleich loslegen, aber der 72-Jährige lässt es sich nicht nehmen, mir mit spürbarem Stolz die Kletteranlage und vor allem die neue Boulderhalle zu zeigen. Mitte Januar wurde sie nach zweijähriger Planungs- und Bauzeit eröffnet. Seither stehen der stetig wachsenden Zahl von Boulderern 500 Quadratmeter mehr für das Klettern ohne Seil und Gurt an bis zu vier Meter hohen Wänden zur Verfügung.

„Boulder heißt auf Englisch Steinbrocken“, erklärt Lorch, während wir den Erweiterungsbau betreten, „und das Bouldern wurde als Möglichkeit entdeckt, um fürs Seilklettern gefahrlos trainieren zu können.“ Inzwischen sei es zu einer selbstständigen Spielart des Kletterns geworden, sagt der Mann, den die Begeisterung fürs Sportklettern mit 14 Jahren packte und nicht mehr losließ.

Griff an die Schwarte

Loslassen. Meine vor Anstrengung zitternden Finger würden nichts lieber tun. Aber mein Ehrgeiz hat etwas dagegen. Gerade sind Kinder, die vom Alter her meine sein könnten, mit der Behändigkeit von Äffchen an mir vorbeigeklettert. Und Menschen, die meine Eltern sein könnten. Meine Kiefermuskeln spannen sich an, ich starre die roten, gelben, grünen, violetten und schwarzen Griffe an der Wand an. Eine Farbe gibt eine bestimmte Route vor. Benützt werden dürfen aber alle: Obenbleiben ist das Ziel. Rechte Hand auf den roten Griff, der aussieht, wie ein Segelohr und dem farblich meine äußeren Hörorgane gerade sehr ähnlich sind? Oder doch besser den linken Fuß auf die gelbe Beule?

Lorch hat recht: Beim Klettern wird jeder Muskel beansprucht, auch die Augen, die gelegentlich zusammengekniffen werden, vor allem aber das Hirn. Er steht auf dem mit dicken Matten ausgelegten Boden und ist bereit zum Spotten. Das Präfix ver- ist zum Glück nicht nötig und Spotten beim Bouldern ganz normal. Es bedeutet, darauf zu achten, dass derjenige, der gerade an der Wand zugange ist, im Zweifelsfall auf die Füße fällt und nicht auf den Rücken oder den Kopf. Bevor die Schwerkraft siegt, kommt mir Lorch verbal zu Hilfe: „Greifen Sie die Schwarte!“ Zu dankbar, um das mit einem Witz zu quittieren, strecke ich die linke Hand aus nach dem fettwulstförmigen, dank Epoxidharz aber harten grauen Griff.

Der Überhang hat es in sich

Wir sind im sogenannten Multifunktionsraum der Boulderhalle. Wer möchte und vor allem kann, hat hier die Möglichkeit, fast den gesamten Raum kletternd zu umrunden. Mittels einer elektrohydraulisch auf 45 Grad verstellbaren Wand lässt sich auch für Überhänge trainieren. Die Decke ist mit Schienen versehen, in die Trainingsgeräte eingehängt werden können. Beispielsweise die Ringe, an denen gerade ein junger Mann mit schwarzeneggereskem Kreuz seine beneidenswerte Körperspannung demonstriert.

„Für Ihre Muskulatur ist ein Rundgang im Multifunktionsraum wohl besser geeignet“, sagt Lorch, nachdem ich im Boulderbereich ein Stockwerk höher dreimal kläglich an einem Überhang gescheitert bin. Ich hatte es schon vor mir gesehen, wie ich mich grazil über die Kante schiebe und nach oben auf die Plattform ausklettere, wie es hier möglich ist. Wenn einen nicht gerade 0,054 Tonnen Gewicht auf die Matte zwingen. Dass auch mein Klettermeister Gerhard Lorch die Kante nicht schafft, ist tröstlich. Auch wenn ich den leisen Verdacht habe, dass er es genau deswegen nicht schafft.

Hochgefühl des Höhengefühls

Der Aufmerksamkeit Lorchs ist es wohl auch geschuldet, dass mir an diesem Nachmittag doch noch ein Erfolgserlebnis vergönnt ist: 14 Meter die senkrechte Wand hoch. Allerdings mit Seil und Gurt, der bei mir laut Lorch dank meines guten Hüftbaus sitzt wie er soll. Dabei ist Sitzen gar nicht so leicht. Vor allem, wenn der Hintern ins Leere zu setzen ist. Ich unterdrücke den Impuls, nach dem Seil zu greifen und strecke Arme und Beine wie geheißen gen Wand.

Dass mein Leben in den Händen Gerhard Lorchs liegt, macht mir nichts aus. Das Hochgefühl des Höhengefühls überwiegt. Außerdem fällt mir just ein, dass in Lorchs Händen auch noch mein Ehering liegt, den ich zum Schutz vor Kratzern abgezogen und nun vor lauter Euphorie fast vergessen hatte. Verschwitzt und unberingt meinem Mann zu erklären, ich sei Bouldern gewesen, hätte mir die zwei Stunden dann doch ordentlich versalzen.