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Vor einem Jahr begann Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche - Frühe Aufklärung.

Stuttgart - Heute vor einem Jahr hat die Bischofskonferenz den Trierer Bischof Stephan Ackermann als Missbrauchsbeauftragten eingesetzt. Damit wurden die Oberhirten einen Monat nach Bekanntwerden der ersten Missbrauchsfälle aktiv.

Robert Antretter hat in seinem Leben und in seiner langen politischen Laufbahn schon vieles erlebt, was ihn belastet, bedrückt und entsetzt hat. Doch nur weniges reicht an die Erfahrungen heran, die der 72-Jährige in seinen acht Jahren als Vorsitzender der Kommission Sexueller Missbrauch der Diözese Rottenburg-Stuttgart gemacht hat. "Jeder Fall nimmt mich persönlich mit", sagt Antretter, der seiner Aufgabe mit viel Geduld und Würde nachgeht. Schuldzuweisungen und Vorverurteilungen liegen dem früheren SPD-Bundestagsabgeordneten gänzlich fern.

Im November hatte Antretter noch von 76 angezeigten Verfehlungen und Straftaten im Bistum gesprochen, denen die Kommission seit Beginn 2010 nachgehe und die allesamt zwischen 13 und 62 Jahren zurücklägen. Inzwischen hat er diese Zahl nach sorgfältiger Prüfung durch die achtköpfige Kommission Sexueller Missbrauch der Diözese nach unten revidiert. Es seien "deutlich weniger als 76 Fälle", sagt Antretter. Drei, vier Fälle seien noch bei der Staatsanwaltschaft anhängig. Ein schwerer Missbrauchsfall sei nicht darunter. Auch diese Vergehen lägen mehr als zehn Jahre zurück.

Die Laienorganisation Wir sind Kirche sieht Rottenburg-Stuttgart auf einem guten Weg. "Im Grunde haben die Verantwortlichen im Bistum alles richtig gemacht", erklärt Sigrid Grabmeier vom Leitungsgremium. Die Südwest-Diözese habe in den vergangenen Jahren eine Vorreiterrolle gespielt. "Viele Peinlichkeiten sind deshalb nicht passiert wie etwa im Bistum Regensburg, wo man sich an gar nichts gehalten und die Leitlinien der Bischöfe von 2002 nicht befolgt hat."

Als Reaktion auf die Veröffentlichungen immer neuer Delikte verschärfte die Deutsche Bischofskonferenz im August die seit 2002 geltenden Leitlinien zum Umgang mit Missbrauchsfällen. Künftig muss jeder Verdacht, dass ein Kirchenmitarbeiter einem Minderjährigen sexuelle Gewalt angetan haben könnte, der Staatsanwaltschaft gemeldet werden. Eine Ausnahme davon gibt es nur, wenn dies dem Opferschutz dient und dadurch nicht andere Kinder und Jugendliche gefährdet werden.

Fassungslos

In Rottenburg-Stuttgart gilt diese Regelung schon seit 2002. Bischof Gebhard Fürst hatte damals die erste diözesane Kommission eingerichtet - mit Antretter als Vorsitzenden. "Wir halten stets einen informellen Kontakt zur Staatsanwaltschaft", sagt Antretter, "aber nie ohne die Zustimmung des Opfers einzuholen." Die Täter würden "bedrängt", sich bei der Justiz zu melden. Dreimal pro Jahr tagt die Kommission, bis zu sechs Fälle werden bearbeitet.

"Als der Missbrauchsskandal durch die Enthüllungen am Berliner Canisius-Kolleg wie eine Welle über uns hereinbrach", erzählt der 72-Jährige, "kamen immer mehr Leute zu uns, die sich ermutigt fühlten, über ihre Erlebnisse zu reden." Wie jene ältere Dame, die vor über 60 Jahren als Kommunionkind von einem Cousin missbraucht worden war. Als sie sich mit 17 einem Priester anvertraute, geschah ihr Ähnliches durch den Geistlichen erneut. Ein Fall, der Antretter fassungslos macht. "Es belastet mich, wenn ich erfahre, dass ein Priester etwas Schlimmes getan hat. Aber ich bin froh darüber, dass die weitaus meisten Priester ihren Dienst gut und korrekt erfüllen."

Lange bevor andere Bistümer handelten, hatte die Diözese die Zeichen der Zeit erkannt. Antretter: "Ich will den Mund nicht zu voll nehmen. Aber vieles von dem, was hier gemacht wurde, hatte Einfluss auf die Formulierung der neuen Richtlinien." Das ganze Ausmaß des Missbrauchsskandals in der deutschen Kirche ist noch nicht bekannt. Bisher werden die einzelnen Fälle nur innerhalb der Bistümer zusammengetragen. Hinzu kommt, dass bisher nur das Erzbistum München-Freising die Akten systematisch durchforsten ließ.

Antretter betrachtet diese Vorgehensweise mit Skepsis. Eine kontinuierliche Bearbeitung der Fälle hält er für sinnvoller und effektiver als eine medienwirksame Ad-hoc-Prüfung wie in München. "Mir ist es lieber, dass keine Akten fehlen und wir uns Zeit lassen mit der Prüfung. Es wäre für uns doch ein Leichtes zu sagen, wir haben alles konsequent aufgearbeitet und damit wäre es gut."

Wieweit die Aufklärungsbereitschaft der Bischöfe geht, darüber gehen die Meinungen auseinander. Der Rektor des Canisius-Kollegs, der Jesuitenpater Klaus Mertes, erklärt, dass es in der Kirche weiter "ein klares Verweigern des Zuhörens" gebe.

Antretter teilt diese Kritik nicht. "Bischof Fürst geht es um Entschiedenheit und Transparenz der Aufklärung. Er geht seit dem Jahr 2002 einen Weg, den viele von der Kirche nicht erwartet hatten. Die Betroffenen haben erfahren, dass ihr Schicksal nicht unter den Teppich gekehrt wird."

Die Diskussion hat sich zuletzt immer mehr auf die Entschädigungsfrage konzentriert. "Wir verstehen, dass es eine Ungeduld von einer ganzen Reihe von Opfern gibt", sagt Ackermann. "Der Druck ist da." Die 27 Diözesanbischöfe haben sich noch auf einen Betrag geeinigt. 2000 bis 5000 Euro pro Opfer seien "nicht abwegig", betont der Trierer Bischof. Robert Antretter sind nur zwei Fälle in Rottenburg-Stuttgart bekannt, in denen Geld eine Rolle spielt. "Alle anderen Opfer wollen ein Gespräch mit dem Bischof oder eine Therapie."