Wikileaks ohne Julian Assange - geht das? Chef der Internet-Plattform befindet sich in Haft.

London - Wikileaks ohne Julian Assange - geht das? Nach der Festnahme des Australiers steht die Enthüllungsplattform ohne ihren charismatischen Kopf da. Handlungsfähig bleibt sie aber offenbar trotzdem. Schwedens Justiz erwartet die Auslieferung des Internet-Aktivisten Assange, auch wenn es Monate dauern könnte. . Aus schwedischer Sicht hängt alles von Julian Assange selbst ab. "Wenn jemand mit der Auslieferung nach einem europäischen Haftbefehl nicht einverstanden ist, kann es Monate dauern", sagt die Göteborger Staatsanwältin Marianne Ny zur Festnahme des Internet-Aktivisten Assange in London. Wenn der in den USA zum Staatsfeind gestempelte Wikileaks-Gründer aber grünes Licht gebe, könne sie ihn binnen zehn Tagen auf schwedischem Boden verhören.

Dieses Verhör ist der Kern des internationalen Haftbefehls, mit dem Ny ihre Ermittlungen zu den Vergewaltigungsvorwürfen gegen Assange zum Abschluss bringen will. Seltsam finden das nicht nur die Anwälte des 39-jährigen Australiers: Im August gab es nach den Vorwürfen von zwei Schwedinnen wegen ungeschützter sexueller Kontakte gegen ihren Willen einen Haftbefehl. Da war Assange noch in Schweden und für die Polizei greifbar vor der eigenen Haustür. Der Haftbefehl wurde aber binnen 24 Stunden zurückgenommen, weil die zweite mit dem Fall befasste Staatsanwältin die Anklagen für zu geringfügig hielt. Assange durfte unbehelligt und ohne die geringsten Auflagen ausreisen. Es dauerte fast zwei Monate, ehe die auf Sexualdelikte spezialisierte Ny aus Göteborg einen zweiten Haftbefehl durchsetzte und eine internationale Fahndung ausschreiben ließ.

"Er wird wohl ausgeliefert werden müssen", stellte resigniert der Stockholmer Assange-Anwalt Björn Hurtig fest, weil es nun mal zwischen Ländern wie Schweden und Großbritannien üblich sei. Hurtig gehört zu den ganz wenigen Stimmen in Stockholm, die wie Assange selbst eine "Verschwörung" mächtiger US-Kreise wegen der jüngsten Wikileaks-Veröffentlichung geheimer Botschaftsdokumente vermuten. Nach allem, was über die Hintergründe für die Sex-Anklagen durchgesickert ist, glauben das sonst nur wenige bei den Skandinaviern. Assange soll bei sexuellen Kontakten während seines August-Besuches den Wunsch von zwei Partnerinnen nach geschütztem Sex nicht respektiert haben. Beide gingen zur Polizei, als ihnen bei einem Gespräch kurz nach diesen Kontakten klarwurde, dass sie beide kurz nacheinander bei fünf Gelegenheiten Sex mit Assange gehabt hatten - und dabei, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, dasselbe Problem.

 Genugtuung der US-Regierung

Ny wertete einen Fall als mögliche Vergewaltigung, allerdings in einer "milden Variante", die anderen als sexuelle Nötigung oder Belästigung. Der schwedische Gesetzgeber ist deutlich strenger als der anderer Länder bei der Bewertung von Sex ohne ausdrückliche Zustimmung beider Partner. Dies gilt vor allem mit Blick auf die harte Linie von Marianne Ny in Stockholm als entscheidender Hintergrund für die Verwicklungen - der nur zufällig zeitlich mit der weltweiten Aufregung um die Wikileaks-Veröffentlichungen zusammengefallen ist. Sein Anwalt hatte stets betont, sein Mandant habe seine Adresse bei der britischen Polizei hinterlegt und diese wisse genau, wo er sei. Assange sei selbst auf die schwedischen Behörden zugegangen und habe um ein Treffen gebeten. Wie es dann in Stockholm mit einem möglichen Auslieferungsantrag aus den USA weitergehen könnte, ist wohl auch für Schwedens Justiz noch ein ziemliches Rätsel. Assange soll nun am 14. Dezember erneut vor dem Gericht in London erscheinen. Er werde sich gegen eine Auslieferung nach Schweden wehren, kündigte er laut BBC an.

"Ich habe es zwar noch nicht bestätigt, aber es klingt wie eine gute Nachricht", sagte US-Verteidigungsminister Robert Gates zu mitreisenden Journalisten auf dem Weg nach Kabul zur Festnahme. Präsident Barack Obama hatte immer wieder erklärt, die Veröffentlichung geheimer Protokolle über die Kriege im Irak und in Afghanistan sowie Diplomaten-Depeschen gefährde Menschenleben und schade US-Interessen. Der Australier nannte sich einmal Herz und Seele von Wikileaks. Nachdem sich Assange gestern in London der Polizei gestellt hat und vorerst aus dem Verkehr gezogen ist, stellt sich die Frage: Kann die Enthüllungsplattform ohne ihn weitermachen? Ist er so wichtig, wie er selbst behauptet? Seine Mitstreiter verkündeten per Twitter, auch ohne ihn weitere Depeschen zu veröffentlichen - und machten so deutlich, dass Wikileaks keine Ein-Mann-Organisation ist.

Wikileaks wird noch aktiver

Assange selbst hält sich für unabkömmlich. "Wenn Du ein Problem mit mir hast, verpiss Dich", bürstete er einen skandinavischen Aktivisten ab, als dieser ihn in einem Chat kritisierte. Andererseits bezeichnete er sich auch einmal als Blitzableiter, der Attacken gegen die Organisation auf sich ziehe. So oder so, Wikileaks war und ist ein Projekt mit vielen, wenn auch zumeist unbekannten Aktivisten. Einige hat Assange mit seiner selbstherrlichen Art aber vergrault - neben dem früheren Sprecher Daniel Domscheit-Berg sind im September nach Informationen des US-Magazins "Wired" mehrere Unterstützer abgesprungen.

Unabhängig von Assanges Inhaftierung muss Wikileaks mit diesem Brain Drain (Abwanderung von Intelligenz) zurechtkommen. Hinzu kommt nun die Frage, ob die Organisation ohne ihren charismatischen, aber auch diktatorischen Chef bestehen kann - oder vielleicht sogar besser funktioniert. "Die heutige Aktion gegen unseren Chefredakteur Julian Assange wird unsere Arbeit nicht beeinträchtigen: Wir werden heute Abend mehr Depeschen veröffentlichen als üblich", hieß es. Und der Australier selbst hatte wenige Tage vor seiner Verhaftung gedroht: "Wenn uns etwas zustößt, werden die entscheidenden Teile (der US-Diplomaten-Akten) automatisch veröffentlicht."

Auch die technische Infrastruktur der Organisation ist von der Festnahme nicht beeinträchtigt. Finanziell steht Wikileaks sogar ausgesprochen gut da. Denn die spektakulären Veröffentlichungen der vergangenen Monate haben den Machern Spenden in die Kassen gespült, die den Betrieb für mehr als ein Jahr ermöglichen sollten. Allein bei der Wau-Holland-Stiftung, die ein Teil der Spendengelder verwaltet, seien seit Oktober 2009 rund 800.000 Euro eingegangen, sagte der Vorsitzende Winfried Motzkus. Wikileaks beziffert seinen Finanzbedarf auf 200.000 bis 600.000 Euro pro Jahr.

Die Turbulenzen könnte allerdings ein Konkurrent nutzen: Schon Mitte Dezember will Domscheit-Berg seine Vorstellungen einer Whistleblowing-Plattform der Öffentlichkeit präsentieren. Verantwortung und Macht sollten bei dem neuen Projekt "möglichst weit aufgeteilt" werden, sagte der frühere Weggefährte mit Blick auf Assanges Verhalten. Die Ideen des Enthüllers ziehen nun auch jenseits von Wikileaks Kreise.