Wem gehört das Eismeer in der Arktis? Foto: dapd

In der Arktis soll nach Schiffwracks gesucht werden - auch aus politischen Gründen.

Gjoa Haven - Vor mehr als 160 Jahren waren die britischen Expeditionsschiffe "Erebus" und "Terror" mit 129 Mann Besatzung aufgebrochen, um die legendäre Nordwestpassage in der Arktis zu erkunden. Jetzt soll nach den Wracks gesucht werden - auch aus politischen Gründen.

In der Arktis ist der Sommer angebrochen. Das Meer in der Bucht von Gjoa Haven ist spiegelglatt, nur ein paar Eisschollen dümpeln am Ufer und leuchten im gleißenden Sonnenlicht. Ein paar Kinder spielen am Strand, Jugendliche brausen auf lärmenden Quadfahrzeugen durch das Dorf. Manche Bewohner haben in ihren Gärten Karibu-Felle zum Trocknen aufgehängt.

Louie Kamookak betritt ein buntes Holzhäuschen am Hafen. Im Büro der Gemeindeverwaltung zeigt er auf eine Seekarte an der Wand. "Meine Vorfahren und ihre Vorfahren waren sich einig, dass irgendwo hier die Schiffe liegen müssen." Irgendwo hier in den Tiefen des kanadischen Eismeers, etwa 2000 Kilometer vom Nordpol entfernt. Vor der Küste der King-William-Insel, die im Sommer nicht viel mehr ist als eine Wüste aus Fels und Gestein. Nahe dem Dorf Gjoa Haven, in dem nur 1500 Menschen leben.

Die größte Katastrophe der arktischen Seefahrt

Kamookak ist ein Inuk, so nennen sich die Eskimos selbst. Der 51-Jährige selbst erlernte Historiker ist eine Schlüsselfigur bei der Suche nach den derzeit gefragtesten Schiffswracks der Welt. Seit dem Fund der "Titanic" vor 25 Jahren gab es um keine Wracks mehr so viel Aufregung wie um die "Erebus" und die "Terror".

Die beiden Segelschiffe waren Teil der legendären Arktis-Expedition des britischen Polarforschers Sir John Franklin. Der hochdekorierte Kapitän war im Jahr 1845 mit 128 Mann aufgebrochen, um als erster Europäer die Nordwestpassage zu finden, jenen 5800 Kilometer langen arktischen Seeweg, der den Atlantik mit dem Pazifik verbindet.

Franklin hatte die verstärkten Schiffe mit mächtigen Dampfturbinen ausstatten lassen, hatte Proviant für mehrere Jahre dabei - und die besten Seeleute der Welt. Doch schon nach wenigen Monaten verlor sich seine Spur auf immer im ewigen Eis. Es ist bis heute die größte Katastrophe der arktischen Seefahrt.

Es geht um mehr als Nostalgie

Mehr als 150 Jahre später will die kanadische Regierung die Wracks nun finden. Von kommenden Montag an werden Taucher, Unterwasserarchäologen und Meteorologen sechs Tage lang den Meeresboden westlich und südlich der King-William-Insel absuchen. An Bord des Eisbrechers "Sir Wilfried Laurier" befinden sich dafür modernste Geräte wie Sonar, Unterwasserkameras und ferngesteuerte Messboote. Mehrere Zehntausend Dollar kostet der Einsatz - pro Tag.

Bei der Mission geht es um mehr als nur Nostalgie. Die "Erebus" und "Terror" waren und sind Schiffe Ihrer Majestät, der Königin von England, die zugleich Königin von Kanada ist. Werden sie geortet, untermauert das die Besitzansprüche Kanadas auf die Arktis. In einem Vertrag haben beide Länder vereinbart, dass sie für diesen Fall in den Besitz Kanadas übergehen.

Bei der Suche kommt es besonders auf Louie Kamookak an. Seit mehr als 20 Jahren sammelt er die Überlieferungen seines Volkes. "Meine Großeltern haben mir als Kind Geschichten erzählt, die sie wiederum von ihren Großeltern erfahren haben." Schließlich waren die Inuit die einzigen Zeugen bei Franklins verzweifeltem Versuch, die Schiffe durch das lebensgefährliche Eismeer zu navigieren.

Ein Schiff zerquetscht vom Eis

In seinem kleinen Büro erzählt Kamookak einige der alten Geschichten. Wie seine Vorfahren an den Stränden unbekannte Gegenstände fanden: Besteck, Glasflaschen, Metalldosen, Nägel oder Munition. Mehr als ein Jahrhundert später sollte sich herausstellten, dass viele Artefakte von den Franklin-Schiffen stammten. Nach übereinstimmenden Berichten älterer Inuit soll es zwischen 1847 und 1848 sogar Begegnungen mit der Franklin-Crew gegeben haben. Angeblich hatten die Ureinwohner Teile der im Eis festsitzenden Besatzung mit Nahrung versorgt, als die Männer erfolglos versuchten, sich zu Fuß durchzuschlagen.

Während der sommerlichen Karibu-Jagd haben die Inuit unter Steinhaufen Gräber von Franklins Mannschaft gefunden. Das des Kapitäns wurde jedoch nicht gesichtet. Franklin starb nach zwei zermürbenden Wintern im Juni 1847 an Bord der "Erebus" - vermutlich an Kälte und Skorbut.

Die Informationen der Inuit seien wie ein Puzzle, das man jetzt zusammensetzen müsse, sagt Ryan Harris von der kanadischen Nationalparkbehörde, der die Suchaktion leitet. Er ist überzeugt, dass sich das Areal auf mehrere Hundert Quadratkilometer eingrenzen lässt. Aus den Überlieferungen lässt sich ableiten, dass eines der Schiffe vom Eis zerquetscht und Teile davon von den Inuit als Brennholz verwendet wurden. Von diesem Schiff lassen sich vermutlich nicht viel mehr als Bruchstücke finden. Das zweite Schiff aber soll noch einige Jahre mit dem Treibeis nach Süden gedriftet und schließlich am Stück gesunken sein.

Mehrere Nationen rivalisieren um das Polargebiet

Mehr als 20 Crews haben in den letzten Jahrzehnten nach den Wracks gesucht, für die Kanadier ist es der dritte Versuch in vier Jahren. Wie wichtig der Regierung die Sache ist, zeigt sich daran, dass parallel zur Wracksuche das bislang größte Manöver in der Arktis stattfindet. Im Rahmen der Operation Eisbär üben derzeit 1000 Soldaten den polaren Einsatz mit Kampfjets, Transportflugzeugen und Eisbrechern.

Seit das Meereis immer schneller schmilzt, rivalisieren mehrere Nationen um das Polargebiet. Angeblich lagern in der Arktis bis zu 30 Prozent der bislang unentdeckten Gasreserven der Welt, dazu viele Rohstoffe und Edelmetalle. Kanada betrachtet die Nordwestpassage als nationales Gewässer, die USA dagegen als internationale Schifffahrtsroute, die sie mit ihren Atom-U-Booten unterqueren. Jedes noch so kleine Wrackteil, aus dem sich Ansprüche ableiten lassen, ist willkommen.

"Die Wracks würden uns Wohlstand bringen."

Im Wrackfieber ist auch die Inuit-Gemeinde Cambridge Bay, zweihundert Kilometer weiter westlich. Über dem Hafen geht gerade die Sonne unter und wirft rötliches Licht auf die Wellblechhütten, Holzhäuschen und Treibstofftanks an Land. Am Himmel kreisen Möwen und Kanada-Gänse. Im Sand am Ufer finden sich Spuren von arktischen Füchsen, Wölfen und Eisbären.

Im Hafenbecken modern im flachen Wasser ein paar Holzbalken vor sich hin. Es sind die Überreste des legendären Dreimasters "Maud", in dem der norwegische Polarforscher Roald Amundsen einst die Region erkundete. Er war der erste Europäer, der über sechzig Jahre nach dem Versuch Franklins die Nordwestpassage bezwang. Zwar nicht in der "Maud", doch das tut der Aufregung im Ort keinen Abbruch. Denn die Norweger haben jetzt angekündigt, das Wrack zurückholen zu wollen.

Vicki Aitoak ist die Sprecherin einer Initiative, die sich dagegen wehrt. Sie ist empört. Die "Maud" gehöre an den Ort ihres Untergangs und nicht ins ferne Europa, erklärt sie. Die kanadische Regierung schweigt beharrlich zu dem Ansinnen. Sie muss dem Export des Wracks zustimmen. Kaum vorstellbar, dass sie es einfach so preisgibt. In Gjoa Haven haben sich die Inuit derweil zu einem Dorffest versammelt. Vor der Sportarena aus grauem Wellblech parken Dutzende Geländefahrzeuge. Drinnen tanzen Jung wie Alt in fein bestickten Kostümen und Schuhen aus Robbenfell zu traditioneller Musik. Alte Männer geben auf Trommeln den Rhythmus vor, zwei Mädchen üben Lieder, bei denen sie die Laute von Seelöwen imitieren. Unter den Zuschauern sind auch die fünf Kinder und vier Enkel von Louie Kamookak. "Ihretwegen wünsche ich mir, dass wir die Schiffe finden", erklärt er. "Die Wracks würden uns viele Besucher und Wohlstand bringen."