Was hätte er tun sollen? Bjarne Mädel in der Rolle des Ermittlers Peter Nadler. Foto: ARD Degeto/Stephan R

Darf ein Polizist einem Entführer Gewalt antun, um ihn zum Geständnis zu bringen? Diesen Fall hat es schon gegeben. Der Autor Ferdinand von Schirach verdichtet die Frage zu einem dramatischen Film. Und die ARD macht daraus ein TV-Experiment. Spannend!

Stuttgart - Eine Tochter aus wohlhabender Berliner Familie wird entführt. Die Eltern bekommen eine hohe Lösegeldforderung und sind bereit zu zahlen. Der mit Fällen dieser Art erfahrene Kommissar Peter Nadler ermittelt trotzdem – und sieht in einem der privaten Wachmänner des Hauses den mutmaßlichen Täter. Doch der schweigt beharrlich, auch unter dem Druck intensivster Verhöre. Nadler sieht das entführte Mädchen in Lebensgefahr. Darum erwägt er einen Alleingang: Er will das Geständnis mit Gewalt aus dem Verdächtigen herauspressen – und hat Erfolg damit. Der Mann gesteht und verrät das Versteck.

Darf ein Polizist im Verhör Gewalt anwenden, um so womöglich in letzter Sekunde das Opfer eines Entführers zu retten? Ist unter solchen Umständen Folter – und um nichts anderes handelt es sich ja hier – erlaubt, obwohl Grundgesetz und Strafrecht sowie die Europäische Erklärung Konvention zum Schutz der Menschenrechte sie kategorisch verbieten?

Vieles erinnert an den Entführungsfall Metzler

Der geschilderte Fall kommt vermutlich vielen bekannt vor: Er erinnert an die Entführung des Frankfurter Bankierssohnes Jakob von Metzler 2002. Der stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident Wolfgang Daschner drohte damals dem verdächtigen Magnus Gäfgen im Verhör schwere körperliche Gewalt an, unter anderem die Vergewaltigung „durch zwei Neger“, wenn er nicht bereit wäre zur Aussage. Daraufhin verriet Gäfgen den Ort, an dem die Leiche des längst ermordeten Jungen zu finden war. Eine Tragödie, die viele Menschen aufwühlte.

Zum physischen Gewaltakt selbst war es gar nicht gekommen. Doch allein die Androhung von Folter gilt bereits als Folter. Zu Recht; im Mittelalter und noch in jedem Verbrecherstaat heute präsentiert man dem Opfer im ersten Schritt die Folterwerkzeuge. Der Polizei-Vizepräsident und ein weiterer Ermittler mussten sich darum 2003 in einem eigenen Prozess verantworten und wurden verurteilt. Ihre Strafen waren zwar nur milde, große Teile der Öffentlichkeit, vor allem die Boulevardpresse reagierten darauf aber mit blankem Unverständnis. Daschners Verteidiger sprach vom Instrument der „Rettungsfolter“, die auch in einem Rechtsstaat ihren Platz haben müsste.

Es gibt nicht eine, sondern zwei Geschichten

Ferdinand von Schirach, selbst Jurist und Strafverteidiger, obendrein erfolgreicher Buchautor, hat nun diese Frage aufgegriffen und einen Fall konstruiert, der die Probleme und die daraus entstehenden Konflikte für Polizei und Gericht weiter verdichtet; eben die eingangs geschilderte Berliner Entführung. Herausgekommen ist ein Stoff, der zweifellos manche private Debatte entzünden wird: „Feinde“. Und da die ARD mutig genug ist, für diesen Stoff ganz außergewöhnliche Ressourcen und Sendeplätze zu investieren, ermöglicht dies gleich zu Beginn des Jahres ein einzigartiges TV-Ereignis: am Sonntagabend, über mehr als drei Stunden hinweg und in einer Kooperation des ersten Programms mit allen Dritten, vom NDR über West und Ost bis hin zu den Bayern.

Was diesen Abend zum Projekt, zum Experiment für den Zuschauer macht? Es gibt keineswegs nur eine Verfilmung der dramatischen Entführung der zwölfjährigen Lisa, sondern es gibt zwei Filme. Der eine unter dem Titel „Gegen die Zeit“ zeigt die Perspektive des Ermittlers Peter Nadler, der zweite („Das Geständnis“) die Sicht des Strafverteidigers Konrad Biegler. Beide Filme haben mit 90 Minuten komplette „Tatort“-Länge – und der Zuschauer selbst kann sich entscheiden, ob er um 20.15 Uhr in der ARD die Geschichte des Polizisten oder parallel in den Dritten die Geschichte des Verteidigers sehen will.

Hochspannende Psychologie

Doch egal, wie er sich zum Start entscheidet: Die Filme sind derart spannend und dicht erzählt, dass es, so unsere Prognose, kaum jemand bei einem Film belassen wird. Kein Problem: Nach Ende der ersten Version folgt sowohl im Ersten als auch im Dritten die jeweils andere Sicht der Dinge, so dass man schließlich nach drei Stunden geradezu beispielhaft alle Argumente für oder gegen die Sache auf dem Tisch hat – und für sich entscheiden kann, ob das abschließende Urteil der Strafkammer nun gerecht ist oder nicht.

Das ganze Konstrukt könnte natürlich furchtbar bemüht und volkspädagogisch wirken, wären da nicht hervorragende Drehbücher und wäre da nicht eine ganz herausragende Regie: Nils Willbrandt ist seit Jahr und Tag mit vielen „Tatort“- und „Polizeiruf“-Wassern gewaschen. Was er aber hier liefert, geht weit über das übliche „Tatort“-Niveau hinaus. Insbesondere „Gegen die Zeit“ besticht durch ruhige, nüchterne, ganz auf die Psychologie der Figuren konzentrierte Erzählweise. Dagegen leistet sich „Das Geständnis“ beim Blick auf den Strafverteidiger-Alltag ein paar mehr Menscheleien. Aber letztlich ist das Ziel auch ganz klar: Im ersten Film geht es ganz allein und fokussiert um den schmerzhaft nüchternen Druck der Ereignisse auf die Psyche des Ermittlers Nadler. Der zweite Film kümmert sich aber auch um die Persönlichkeit Konrad Bieglers, seinen Alltag, um deutlich zu machen, woher sein scharfer Sinn für die Regeln und Grenzen des Rechtsstreites kommt.

Der zweite Film bringt wirklich eine zweite Sicht

Vorzüglich die Besetzung der beiden Hauptrollen: Bjarne Mädel wird als Peter Nadler endgültig zum großen Charakterdarsteller des deutschen Fernsehens. Und Klaus Maria Brandauer zeigt als Konrad Biegler alle Potenziale seines Spiels, ohne den Respekt vor dem Gesamtprojekt zu verlieren. Eindrucksvoll!

Nein, die beiden „Feinde“-Stücke sind keineswegs Actionfilme, sondern über weite Strecken Kammerspiele; allein der Gerichtsprozess nimmt in beiden Fällen rund 40 Minuten ein. „Gegen die Zeit“ und „Das Geständnis“ sind darüber hinaus eng miteinander verzahnt; es gibt längere Passagen, die in beiden Filmen gleich sind. Trotzdem werden wirklich „zwei Geschichten“ erzählt, obwohl es doch eigentlich nur eine Geschichte ist. Obwohl man also beim zweiten Mal vieles wiedererkennt, schaut man doch fasziniert bis zum Schluss hin: Manche Details sind neu, manche Stimmung ist anders. Manchmal, vor allem im Gerichtssaal, gibt es eine andere Kameraperspektive, und schon wird aus dem eitlen, selbstgefälligen Anwalt, der einen aufrechten Polizisten unter Druck setzen will, plötzlich ein engagierter Jurist, der sich schlicht um die Unversehrtheit seines Mandanten sorgt.

So wird dieser Fernsehabend nicht nur vom Thema, sondern auch vom Filmischen her ein Ereignis. Es sollte uns wundern, wenn nicht auch die Jurys der Grimme-Preise dies so einschätzen werden.

Ein Thema, zwei Filme, viele Sendetermine

Termine

In welcher Reihenfolge soll man die Filme sehen? Unsere Empfehlung: Schauen Sie im Ersten. Also Sonntag, 20.15 Uhr, „Gegen die Zeit“.
Um 21.45 Uhr folgt leider keineswegs gleich Film Nummer zwei, sondern das öffentlich-rechtliche Fernsehen bringt erst einmal wieder das scheinbar unumgängliche Erklärstück: Die 30-minütige Doku „Recht oder Gerechtigkeit“ ist leider der mit Abstand schwächste Teil des Abends. Um 22.30 Uhr
folgt dann endlich unnötig spät „Das Geständnis“.

Alternative

Alle Dritten senden die Filme ab 20.15 Uhr in umgekehrter Reihenfolge. Außerdem steht „Feinde“ natürlich in der ARD-Mediathek zur Verfügung – nebst einer dritten Variante namens „Der Prozess“, die aber nur 45 Minuten lang ist.