Toll bis in den Tod: die Antigone der Kristin Göpfert Foto: Patrick Pfeiffer

Die Esslinger Landesbühne trotzt der Pandemie und eröffnet die Restsaison mit der „Antigone“ des Sophokles. Da der Regisseur Alexander Müller-Elmau die Inszenierung genial den Rahmenbedingungen anpasst, entsteht ein großer Abend.

Stuttgart - Es ist keine Premiere wie jede andere. Es ist die erste Corona-Premiere auf einer der großen Bühnen der Region und strahlt weit über Esslingen hinaus. Und Friedrich Schirmer wäre nicht Friedrich Schirmer, würde er die Besonderheit des Abends nicht für ein Begrüßungswort nutzen. „An den Erfahrungen, die wir in den letzten Wochen gemacht haben, werden wir noch lange knabbern“, sagt der vor der Bühne postierte Intendant, „doch die Pandemie hat auch gezeigt, was in der Gesellschaft schlecht läuft – und was gut: das Mitgefühl, das Füreinander-Da-Sein, das Zusammenstehen“. Zum Guten und Aufbauenden zählt er auch „die Kraft des Theaters“, an dessen „Unsterblichkeit“ er glaube. Und bevor jetzt das Pathos durch die Saaldecke zu gehen droht, bremst der rhetorisch beschlagene Theaterchef es auch hurtig wieder ein: „Wir würden uns freuen“, so seine Bitte ans Publikum, „wenn Sie am Ende der Vorstellung nicht mit der Maske wedeln, sondern mit den Händen klatschen.“

Sein Appell fruchtet. Erst beim Verlassen des Saals findet die Schutzmaske wieder jene Verwendung, die sie schon vor dessen Betreten hatte. Auf dem Sitzplatz darf sie abgenommen werden, aber davor und danach Mund-Nasen-Schutz im gesamten Theater, ausgetüftelte Wegführung und vom Personal überwachte Abstandsgebote bis hinein in die Toiletten: Im Schauspielhaus dürfen sich die 99 zugelassenen Besucher tatsächlich so sicher fühlen, wie der Intendant es in seiner launigen Rede versprochen hat.

Schutzvisiere sind die besten Requisiten

Jetzt aber los mit der 2500 Jahre alten „Antigone“ des Sophokles, dem Musterbeispiel für die beschworene Unsterblichkeit des Theaters: Der Regisseur und Bühnenbildner Alexander Müller-Elmau hat die Tragödie genial den Corona-Bedingungen angepasst und dem Virus geschuldete ästhetische Verluste geschickt vermeidet. Körperlich kommen sich die Spieler in Esslingen nicht allzu nahe, seelisch – und darauf kommt’s an – aber schon. Und die transparenten Schutzvisiere, die das Ensemble über weite Strecken trägt, baut die Regie derart klug ins Geschehen ein, dass sie wie mit Bedacht gewählte Requisiten im Krieg der Worte wirken, zwingend wie die ganze, in konzentrierter Kargheit sich entfaltende Inszenierung.

Zeitgeistmoden abhold, zeigen sich außer den Plastikvisieren nur noch zwei weitere anachronistische Requisiten auf der Bühne: ein Lautsprecher, aus dem orientalische Saz-Klänge dringen und den Raum mit Melancholie füllen, sowie eine Batterie alter Schreibmaschinen, hinter denen der antike Chor anfangs Platz nimmt, um den Eröffnungstext so in die Tastatur zu hacken und zu hämmern, wie das einst Walter Jens getan haben dürfte. Auf seiner Nachdichtung der „Antigone“ fußt die Inszenierung – und obwohl heutigen Sprachgewohnheiten sanft angepasst, sind die Verse jetzt trotzdem keine leichte Kost. Man muss sich schon reinhören, um nicht nur die Schönheit der Sprache, sondern auch die Zeiten überdauernde Aktualität der antiken Tragödie zu erkennen.

Die ideale Antigone: Kristin Göpfert

Antigone will ihren Bruder Polyneikes bestatten, der mit seinen Truppen gegen Theben gezogen ist. Thebens Herrscher aber, Kreon, betrachtet ihn als Staatsfeind und will ihn den Vögeln zum Fraß vorwerfen: Keine Totenruhe für den Landesverräter, sondern Hass und Verfolgung über den Tod hinaus! Und so steht Gesetz gegen Gewissen, Staatsräson gegen Moral, die freilich rigide sein kann wie die Macht eines Tyrannen. Insofern erweist sich die strenge Kristin Göpfert als ideale Besetzung der Antigone. Stolz, unbeugsam, unerbittlich streitet sie für die Bruderliebe und das Gebot der Götter, die Toten zu erlösen. Mit ihrer Diktion durchdringt sie noch jeden Vers – und von finsterster Klarheit ist auch ihre Körpersprache, wenn sie sich als Verzweiflungsritual erst die pechschwarzen Haare ausreißt und dann in den Tod geht: Göpfert/Antigone bringt sich zum Verschwinden, indem sie sich, irre geworden, in den blütenweißen, bühnenhohen Vorhang einwickelt, der sich durch ihre Raserei mehr und mehr zu einem Strang verengt und verdichtet. Tod durch Erhängen – und eine an die Nieren gehende Bildidee.

Aber was wäre Antigone ohne ihren Widersacher Kreon? Als Herrscher, der an seinen Taten zugrunde geht, besticht Martin Theuer nicht weniger als Kristin Göpfert. Sie sind die Stars an einem Abend, an dem das ganze Ensemble überzeugt. Nach achtzig pausenlosen Minuten ist die in jeglicher Hinsicht bemerkenswerte Corona-Premiere vorüber. Und niemand wedelt mit den Masken. Alle klatschen begeistert und gehen maskiert raus aus dem Haus in sehr geordneten Formationen.