Vor einem begeisterten Publikum hat die Herrenberger Pianistin Annique Göttler in der Stuttgarter Liederhalle ihre Debut-CD präsentiert. Auffallend viele junge Leute waren im Saal – könnte so die Zukunft der Klassikkonzerte aussehen?
Wenn das mal nicht ein denkwürdiger Abend in der Stuttgarter Liederhalle war: Die Pianistin Annique Göttler präsentierte ihre Debut-CD – und vieles war so ganz anders als in anderen Klavierabenden. Angefangen bei den Äußerlichkeiten. Beklagen Musiker wie Veranstalter seit langem einem Überalterung des Publikums, so war die Fraktion der Ergrauten am Freitag deutlich in der Minderheit.
Ohne Häppchen und Chi-chi
Für sich genommen schon eine kleine Sensation für ein klassisches Konzert, zumal für ein im Grunde sehr konventionelles, anspruchsvolles Programm, eins ohne Cross-Over, Häppchen und sonstigen Chi-chi. Denn Annique Göttler spielte nichts weniger als zwei Spitzenwerke der romantischen Klavierliteratur, die beiden Etüden-Zyklen von Frédéric Chopin.
Annique Göttler hat ihr Konzert selbst veranstaltet, die CD selbst produziert und auf klassische Werbung verzichtet. Sie setzt stattdessen auf Youtube und Instagram, wo mittlerweile fast 120 000 Follower ihre Clips kennen und schätzen. Der Erfolg in Form ihres jungen Publikums gibt ihr recht – ob das nicht ein zukunftsfähiges Konzept für die Klassikszene sein könnte?
Charmante zweisprachige Begrüßung
Die Chopin-Etüden verlangen nicht nur von den Interpreten spieltechnische und musikalische Höchstleistungen, auch das Publikum sollte bei den zweimal zwölf Stücken bei der Sache bleiben. Charmant wies Annique Göttler in ihrer zweisprachigen Begrüßung darauf hin, dass man bitte nicht zwischen den einzelnen Etüden klatschen möge, um den Spannungsbogen nicht zu stören – „wenn Sie unsicher sind: warten Sie einfach, bis ich aufstehe.“ Und das zahlreich erschienene Publikum – es erwies sich als weiterer Glücksfall des Abends. Von wegen Generation Smartphone mit megakurzer Aufmerksamkeitsspanne: man hätte in den Pausen Stecknadeln fallen hören können, so sehr standen die Leute unter dem Bann der Künstlerin.
Sie wurden aber auch mit Klavierkunst der Extraklasse belohnt. Gewiss: es gibt viele Pianistinnen und Pianisten, die schnelle Finger und einen hochmusikalischen Geist haben. Bei der Mitzwanzigerin Annique Göttler kommt aber hinzu, dass sie schon heute einen ausgeprägten Personalstil hat. Ihre Klangpalette ist überreich, ihre Agogik, ihr poetisches Rubato erinnert an die Goldene Zeit der Klavierspiels mit Künstlern wie Ignaz Friedman.
Und ihre Suche nach neuen Erkenntnissen aus den altbekannten Notentexten ist schlicht phänomenal: Wer je gehört hat, wie sie in der eröffnenden C-Dur-Etüde ganz natürlich und scheinbar mühelos eine Mittelstimme herausarbeitet, wird diesen Cantus firmus bei allen anderen Interpretationen künftig vermissen. Ebenso den koboldhaften Tanz, den sie in Nummer zwei buchstäblich mit links aufführt, während die drei Außenfinger der rechten Hand gegen das schiere Verknoten kämpfen müssen.
Mit stählernen Nerven
Ungewohnt auch die ungeschlacht polternden Bassquinten in der F-Dur-Etüde aus op. 10 – „etwas hanebüchen“, hätte Robert Schumann dazu vielleicht gesagt – und der pausenlose Übergang ins folgende f-Moll-Schwesterstück. Immer wieder gab es so Neues zu entdecken, Ungewohntes zu erleben. Dass manchmal ein Ton daneben ging und auch dass das Gedächtnis Annique Göttler ein paar tückische Streiche spielte, fiel musikalisch überhaupt nicht ins Gewicht – zumal die Künstlerin immer mit stählernen Nerven weitermachte. „Jeder Esel“, um Johannes Brahms zu zitieren, hätte das gehört – aber ganz offensichtlich spürte das Publikum eben auch, dass es da Zeuge eines außergewöhnlichen Konzertes wurde.
Vor 50 Jahren hatte ein junger Pianist namens Maurizio Pollini mit den Chopin-Etüden seinen großen Durchbruch, vor knapp 100 Jahren war es Wilhelm Backhaus, der damit seine Kollegen das Fürchten lehrte – und wer weiß: vielleicht wurde Stuttgart Zeuge, wie am Freitag eine weitere Gesamtaufnahme dieses Kalibers vorgestellt wurde.