Foto: Piechowski

Der Amoklauf von Winnenden hat 16 Menschenleben gefordert. Unter den Toten war auch der 56-jährige Franz Just. Sein Schicksal ist in Vergessenheit geraten.

Stuttgart - Der Amoklauf von Winnenden hat 16 Menschenleben gefordert. Unter den Toten war auch der 56-jährige Franz Just. Während die ermordeten Schüler und das Leid ihrer Eltern bis heute die Öffentlichkeit bewegen, ist das Schicksal von Just in Vergessenheit geraten.

Der 11. März 2009 ist ein kalter, nasser Tag. Franz Just geht trotzdem zu Fuß aus dem Haus, wie jeden Morgen. Bis zu seiner Arbeitsstelle, dem Zentrum für Psychiatrie (ZfP) in der Innenstadt von Winnenden, sind es nur ein paar Minuten.

Die Klinik verteilt sich auf historische und moderne Gebäude in einer großzügigen Parkanlage. Just ist Gas- und Wasserinstallateur in der technischen Abteilung. An diesem Morgen geht er zum Ententeich. Das knietiefe Gewässer liegt mitten im Park. Just will den Abfluss säubern.

Gegen 9.45 Uhr - die genaue Uhrzeit hält die Staatsanwaltschaft geheim - bricht das Unheil über Just herein. Der Tod kündigt sich nicht an. Er kommt wie aus dem Nichts. Die Ermittler meinen, dass Just von dem Drama, das sich in den 30 Minuten zuvor in der benachbarten Albertville-Realschule abgespielt hat, noch nichts mitbekommen hat: Ein 17 Jahre alter Jugendlicher hat elf Menschen kaltblütig erschossen.

Schüler und Schulleitung alarmieren per Handy die Polizei. Als die ersten Beamten ins Schulgebäude stürmen, gibt der 17-jährige Tim K. zwei Schüsse auf sie ab. Dann flieht er über eine rückwärtige Treppe und das Untergeschoss aus dem Gebäude. Er rennt an einem Sportplatz entlang, klettert über einen Zaun, läuft über den Rasen an Büschen, Hecken und Bäumen vorbei - bis er am Ufer eines Teiches einem Mann in Handwerkerkluft gegenübersteht.

Tim K. feuert bis das Magazin leer ist

Auch Just ist überrascht. Er ist Tim K. nie begegnet. Er erkennt nur, dass es kein Mitarbeiter der Klinik ist. Ob noch einer etwas sagt? Vermutlich nicht. Der junge Mann hebt die Pistole und feuert vier Schüsse ab. Der ältere Mann sackt zusammen. Kniet. Der Junge geht ein paar Schritte weg. Dann kommt er wieder und feuert aus nächster Nähe noch einmal fünf Schüsse ab. Bis das Magazin leer ist, und der Ältere flach am Boden liegt. Dann wendet sich Tim K. ab und geht ohne Eile davon.

Selbst erfahrene Ermittler sind von der Kaltblütigkeit und Brutalität entsetzt. "Der Täter hat auf alles gefeuert, was ihm im Weg stand", berichtet ein Beamter. "Das Opfer im Park hatte keine Chance: Der Mann war nur zur falschen Zeit am falschen Ort."

Stundenlang liegt die Leiche von Just am Teichufer, notdürftig zugedeckt mit einer Plane. Während die Realschule bald von Hunderten, teils schwer bewaffneten Polizisten und Sondereinsatzkommandos abgesperrt ist, wird der Park nur mit schmalen Plastikbändern und durch einzelne Beamte gesichert. Alles schaut gebannt auf die Schule, wo das monströse Verbrechen begann, und auf das Autohaus in Wendlingen, wo es mit zwei weiteren Opfern und dem Suizid des Täters endete. Die Schüsse im Park werden zur Randnotiz.

Mal heißt es, der Tote unter der Plane sei ein Spaziergänger gewesen, mal wird er als Hausmeister bezeichnet. Auch in den Wochen nach dem Amoklauf, als sich Medien mit immer neuen Details über den Täter, die ermordeten Schüler und ihre Angehörigen überbieten wollen, bleibt der Tote im Park eine Leerstelle. Weil man so wenig über ihn weiß, ist auch die öffentliche Anteilnahme an seinem Schicksal geringer. Es wird still um ihn. So beginnt das Vergessen.

Wer war der Mann? Franz Just kommt am 16. April 1952 in Osterhofen/Niederbayern zur Welt. Er ist das älteste von fünf Kindern. Vater und Mutter haben im Krieg die Heimat verloren. Die junge Familie zieht westwärts, bis sie in Weiler zum Stein eine Bleibe findet, einem Dorf bei Winnenden. "Wir hatten eine gute Kindheit", erzählt Rosmarie Uhl, die Zweitgeborene. "Wir haben es nicht böse zu spüren bekommen, dass wir Flüchtlinge sind." Das will damals etwas heißen. Uhl lebt immer noch dort.

Franz Just absolviert die Hauptschule, macht eine Installateurslehre. Danach geht er zur Bundeswehr. Drei Jahre Luftwaffe. Just trägt die Uniform mit Stolz. Der Wehrpass von 1971, mit dem Porträt eines gut aussehenden Mannes mit schwarzem Haar und dunklen Augen, ist eines der wenigen Andenken der Schwester an den Bruder.

Just wird zum Eigenbrödler

1983 tritt Just die Stelle in der Klinik an. Er ist ein verlässlicher und fleißiger Mitarbeiter, der sich stark mit der Arbeit identifiziert. Die Kameradschaft, bei der Werkfeuerwehr, beim Betriebssport oder dem Fußballverein, das ist sein Ding. Der junge Just ist kein Langeweiler: Er hört Platten von den Beatles und Status Quo, trägt enge Jeans und offene Hemden, hat einen Schlag bei Frauen, redet oft über Politik und engagiert sich für die Kollegen. "Wenn es um soziale Gerechtigkeit ging, war er sehr sensibel", erinnert sich ein Bekannter.

Dann wird die Feuerwehr aufgelöst, die Mutter stirbt und Just, älter und schmaler geworden, zieht sich mehr und mehr zurück. Er wird misstrauisch, ein wenig sonderbar. Der Eigenbrötler fühlt sich leicht verletzt, auch von denen, die es gut mit ihm meinen. Echte Freunde hat er wenige. Just zieht sich zurück, träumt von Rente mit 58. Sein einziges Laster sind die West-Zigaretten und sein Faible für Handwerksmaschinen. In der Freizeit renoviert er ein kleines Haus am Rand der Altstadt, das er demnächst beziehen will. Möbel und den neuen Flachbildfernseher hat er schon gekauft. Dann kommt der 11.März 2009.

Das Foto von Just, niedergestreckt am Ufer des Teichs, ist ein schamloses Bild. Seriöse Medien verzichten auf seine Veröffentlichung. Trotzdem geht das Foto um die Welt. Weil es das einzige Bild ist, das ein authentisches Opfer des monströsen Verbrechens in Winnenden/Germany zeigt.

Als sich die Kollegen in der Schlosskirche intern zur Trauerfeier für Just versammeln, ist Presse unerwünscht. Auch den Teich, an dem später Blumen, Kerzen, Engelsbildern und ein selbst gebasteltes Kreuz liegen, bekommen Außenstehende nicht zu Gesicht. Die Klinik - die mit einem weiteren Hinterbliebenen doppelt von dem Verbrechen betroffen ist - schottet sich ab. Das ist bis heute so. Keine Stellungnahme.

Um Franz Just trauern zwei Schwestern, zwei Brüder, vier Neffen und drei Nichten. Professionelle Hilfe gibt es nicht. "Nach uns hat keiner geschaut", erzählt Rosmarie Uhl. "Dabei haben wir auch geweint, wir haben auch einen Menschen verloren." Laut um Hilfe zu bitten ist nicht ihre Art. In absehbarer Zeit wird das Haus abgerissen, das ihr Bruder zuletzt bewohnt hat. Wenn das Gebäude weg ist, fehlt eine weitere, sichtbare Spur, eine Orientierungsmarke für die Erinnerung. "Wo Franz war, ist ein schwarzes Loch", meint Schwager Manfred Uhl.

Das Grab des fünften Opfers liegt am Ende des Friedhofs

Als Angehörige der getöteten Schüler ein Aktionsbündnis gründen, politisch Einfluss nehmen, die Verschärfung des Waffenrechts fordern, Gewalt in PC-Spielen anprangern und eine Stiftung ins Leben rufen, steht die ältere Schwester erneut am Rand. "Wir wurden nie gefragt, ob wir mitmachen wollen", sagen die Uhls. Von den meisten Aktivitäten für das Bündnis - Fußballturniere, Benefizkonzerte, Musik-CDs - erfahren sie aus der Zeitung. Obwohl man sich gut kennt in Weiler. Aber klagen wollen sie nicht.

Wenn ein Kind stirbt und ein Erwachsener, sei das für die Hinterbliebenen wohl ein Unterschied, meint Rosmarie Uhl. Sie ist selbst Mutter. Doch Opfer erster und Opfer zweiter Klasse sollte es nicht geben. Im Tod seien schließlich alle gleich.

Auf dem Friedhof von Weiler zum Stein sind fünf Opfer des Amoklaufs bestattet. Die Gemeinde hat dafür keine Rechnung ausgestellt. Oben, gleich neben dem Eingang, stößt der Besucher auf die Gräber von vier Schülerinnen. Sie liegen fast Seite an Seite. Auf einem Grab heißt es: "Krankhafter Wahn brachte über uns Verhängnis, Tränen und Tod." Auf den anderen Grabstätten wird auf das Verbrechen nicht hingewiesen. Mit Blumen, Kerzen, Engeln und Grüßen übersät sind sie alle.

Das Grab des fünften Opfers liegt am Ende des Friedhofs, im äußersten Winkel an einer Hecke. In der Familiegrabstätte ruhen schon Vater und Mutter. Rosafarbene Begonien, weiße Alpenveilchen, eine Weide. Es ist ein ruhiges, bescheidenes Grab. Franz Just ist als letztes Opfer des Amoklaufs in Weiler beigesetzt worden. Erst die Kinder. Dann er. Es hat sich so ergeben. Franz Just hätte es vermutlich verstanden.