Die Bilder im Kopf wollen nicht so recht zu einem ganzen werden Foto: dpa

Wer nach einem Unfall sein Gedächtnis verliert, muss seine eigene Vergangenheit suchen.

Stuttgart - Für einige Tage spielt Linh in einem Film mit, dessen Drehbuch sie nicht kennt. Der Film ist ihr eigenes Leben. Linh hatte ihr Gedächtnis verloren und versteht weder die Sprache ihrer Mutter noch erkennt sie ihren eigenen Freund. Jetzt erinnert sie sich wieder.

"Con oi, con oi, co khoe khong?", fragt eine Stimme. Langsam öffne ich meine Augen, blicke in ein verzweifeltes Gesicht. Ich erkenne und verstehe sie nicht. Der Arzt wird mir später erklären, dass sie meine Mutter ist und ich ihre Sprache kann. Normalerweise.

Ich schaue mich um, ein fremdes Bett in einem unbekannten Zimmer. "Wo bin ich?", höre ich mich fragen und erschrecke über meine eigene Stimme. Ein Mann im weißen Kittel kommt auf mich zu und redet ruhig auf die Frau neben mir ein. Dann wendet er sich freundlich an mich. "Hallo junge Dame, wie heißt du denn?" Obwohl ich noch immer nicht weiß, wo ich bin und wer er überhaupt ist, will ich antworten. Aber mir fällt mein eigener Name nicht ein. Panik. Ich will nach Hause. Nur weiß ich nicht, wo mein Zuhause ist. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Hilflos breche ich in Tränen aus.

Der Arzt legt vorsichtig eine Hand auf meine Schultern und sagt: "Du bist ganz stark auf den Kopf gestürzt und kannst dich wahrscheinlich im Moment an nichts erinnern. Das legt sich aber bestimmt bald wieder." Das ist jetzt zwei Monate her. Inzwischen habe ich mein Gedächtnis tatsächlich wieder. Aber der Weg dahin war grauenvoll.

Die fremde Frau, die meine Mutter ist, nimmt mich mit in das Zuhause, das mir genauso unbekannt vorkommt wie das Krankenhauszimmer. In ihrer unverständlichen Sprache stellt sie mir einen unbekannten Jungen vor. Er soll mein Freund sein. An diesem Abend zeigen sie mir viele Fotos. Auf manchen Bildern soll auch ich zu sehen sein. Aber es kommt mir so vor, als wäre die Person jemand anders.

Immer wieder versuche ich, Erinnerungen an die Vergangenheit abzurufen. Statt Geistesblitze bekomme ich nur Kopfschmerzen. Also lasse ich mir erzählen, was passiert ist. Offenbar ist mir schwarz vor Augen geworden und ich bin eine Treppe heruntergefallen. Dabei habe ich mir den Kopf gestoßen, jetzt leide ich unter Amnesie, Gedächtnisschwund. Was man dagegen tun kann? Vor allem erst einmal abwarten.

In der Zwischenzeit muss ich wieder zur Schule gehen. Das soll mir helfen, mich zu erinnern. Ich treffe dort auf Menschen, die meine Freunde sein sollen. Anfangs glauben sie mir meine Krankengeschichte nicht so recht. Aber spätestens nachdem ich meine Freundin gefragt habe, ob ihre ungewöhnliche Haarfarbe echt oder gefärbt sei, merken sie, dass ich tatsächlich nichts mehr aus meiner Vergangenheit weiß - und reagieren geschockt.

Noch nie zuvor kam mir ein ursprünglich so bekannter Ort, in dem ich einmal sehr gut zurechtkam, so unbekannt vor. All die Leute, die mich herzlich grüßen, all die Lehrer, die nett lächeln - keines der Gesichter im Schulhaus kenne ich. Im Unterricht kann ich weder Englisch noch Französisch sprechen, obwohl Fremdsprachen eigentlich meine Stärke sind.

In den nächsten Tagen helfen mir meine besten Freundinnen sehr, indem sie mir viele Geschichten erzählen. Gleichzeitig spüre ich, wie komisch und fremd sie mich empfinden - und wie traurig sie meine Gedächtnislücken machen. "Nicht mal an mich kannst du dich noch erinnern?" - "Was, das weißt du auch nicht mehr?" Andere Mitschüler gehen mir einfach aus dem Weg, haben Angst vor mir. Manche erzählen mir auch Geschichten, die gar nicht stimmen. Sie nutzen meine Situation aus und tragen dazu bei, dass ich mich noch hilfloser fühle. Keinen Tag werde ich die Angst los, dass meine Erinnerungen nie mehr wiederkommen.

Aber plötzlich ist er da, der Moment, an dem wieder Licht ins Dunkel fällt. An dem einem das eigene Leben nicht mehr vorkommt wie ein Film, in dem man zwar mitspielt, aber sein eigenes Drehbuch nicht kennt. Plötzlich wache ich auf. Wie bei einer Kettenreaktion kommen die Erinnerungen zurück. Ich weiß wieder, wie mein Lieblingslied heißt, was mein Lieblingstier ist und was meine Lieblingsfarbe. Normalerweise sind solche kleinen Dingen nicht so wichtig, weil sie selbstverständlich sind. Jetzt aber bringen sie mir einfach nur eine riesengroße Erleichterung, die ich gleich mit meiner besten Freundin teilen muss. Sie antwortet auf meine SMS: "Ich freue mich total, dass ich meine Linh ab morgen wiederhabe."