Eine Afghanin in der landestypischen Verschleierung, der Burka: „Ziehen den Tod dem Leben vor.“ Foto: dpa/Jalil Rezayee

Seit dem Abzug der Nato-geführten Schutztruppe aus Afghanistan im August 2021 beschnitten die Taliban systematisch die Rechte von Mädchen und Frauen. Die Anzahl ihrer Selbstmorde steigt explosionsartig an.

Seit die Taliban im Sommer 2021 die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, ist die Zahl der Frauen, die sich das Leben nehmen oder zu nehmen versuchen, geradezu explodiert. Das berichtet die britische Tageszeitung „The Guardian“ aufgrund eigener Recherchen. Die Journalisten sammelten unter Lebensgefahr Daten in Krankenhäusern und psychiatrischen Kliniken in einem Drittel der afghanischen Provinzen. Die Taliban selbst erfassen solche Daten nicht. Zudem verbieten sie den Ärzten, die von ihnen persönlich erhobenen Daten weiterzugeben.

Die Zahlen von August 2021 bis August 2022 zeigten bereits, dass Afghanistan nach dem Abzug der Nato-geführten Schutztruppe zu einem der wenigen Länder der Welt geworden ist, in dem mehr Frauen als Männer Selbstmord begehen. „Diese Zahlen sind in diesem Jahr explodiert: Wir haben nur einen begrenzten Einblick in die Situation in einem Viertel Afghanistans. Aber dort sprechen wir von etwa 350 Selbstmorden pro Monat“, sagt Gerard im Gespräch mit unserer Zeitung. Seinen richtigen Namen und den seiner Hilfsorganisation will er - wie alle anderen Gesprächspartner auch - nicht in der Zeitung lesen: „Die Taliban würden uns verhaften, unsere Mittel konfiszieren und das Wenige, was wir hier noch tun können, verbieten.“

Zumal alle Hilfsorganisation den terroristischen, selbst ernannten Gotteskriegern penibel Rechenschaft ablegen müssen, wann sie was wo mit welchen afghanischen Kooperationspartnern getan haben. Ihre Projekte müssen sie genehmigen lassen und Sicherheiten bei Banken hinterlegen, die die Taliban vorgeben.

„Afghanistan befindet sich inmitten einer Krise der psychischen Gesundheit, die durch eine Krise der Frauenrechte ausgelöst wurde“, sagt Alison Davidian, die UN-Beauftragte für Frauen in Afghanistan. „Wir sind Zeugen eines Moments, in dem eine wachsende Zahl von Frauen und Mädchen unter den gegenwärtigen Umständen den Tod dem Leben vorzieht.“

Neun von zehn Frauen sind häuslicher Gewalt ausgesetzt

Sie weiß um die Gründe, warum immer mehr Mädchen und Frauen Selbstmord begehen: Die Taliban haben Frauen fast vollständig aus dem öffentlichen Leben verbannt: Sie dürfen keine höheren Schulen besuchen, nicht für Lohn arbeiten, keine Parks, Schwimmbäder oder Restaurants aufsuchen. Neun von zehn Frauen, so fand Davidians UN-Organisation heraus, sind seit dem Abzug der westlichen Soldaten häuslicher Gewalt ausgesetzt. Alleinerziehenden Frauen nehmen die Taliban die Kinder weg, um sie in Kinderheimen zu erziehen. Mädchen landen nicht selten in der Sexsklaverei. Andere wiederum werden werden mitunter bereits im Alter von vier, fünf Jahren verheiratet. Frauenhäuser - in den 20 Jahren des westlichen Engagements am Hindukusch mühsam und mehr schlecht als recht aufgebaut - wurden nach der Machtübernahme der Taliban im November 2021 wieder geschlossen.

Frauen, zählt Gerard auf, „dürfen das Haus nur in Begleitung eines männlichen Verwandten und verschleiert verlassen. Dieser Mix, Frauen aus dem Gesundheitssystem als Ärztinnen und Pflegerinnen auszuschließen, und dem Verbot für Ärzte und Pfleger, Mädchen und Frauen medizinisch zu versorgen, führt dazu, dass Frauen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben.“ Frauen protestieren nicht mehr öffentlich für ihre Rechte, wie es nach dem Abzug des Westens der Fall war. „Sie werden regelrecht niedergeknüppelt, willkürlich verhaftet, sexuell gefoltert, ermordet“, sagt Gerard. „Es gibt keinen Protest mehr.“

Mehr Interesse daran, Terrorismus zu bekämpfen als Frauen zu stärken

Zaghaft suchen erste Länder den sanften Dialog mit den Taliban: Saudi-Arabien, Katar, die Türkei, China und Russland knüpfen vorsichtig erste Kontakte. Viele westliche Staaten beobachten das mit Interesse. „Das Interesse des Auslands gilt der Sorge, in Afghanistan könnte die nächste Generation islamistischer Terroristen heranwachsen. Ich glaube nicht, dass diese Gespräche dazu führen, dass die Taliban ihre Dekrete zurücknehmen und die Rechte von Mädchen und Frauen gestärkt werden“, blickt Gerard in eine düstere Zukunft. Im Gegenteil: „Die Unterdrückung wird sogar noch zunehmen, wenn die Taliban international hofiert werden.“