Die Aufspaltung bei Daimler beendet eine Ära im Gesamtbetriebsrat. Künftig gibt es zwei getrennte Arbeitnehmervertretungen mit Ergun Lümali (Mercedes-Benz AG) und Michael Brecht (Truck AG) an der Spitze. Sie kämpfen gegen immer neue Unruhe an.
Stuttgart - Die Trennung von Daimler in die Truck Holding AG und die Mercedes-Benz Group AG zum 1. Februar 2022 ist beschlossen. Die Arbeitnehmervertreter tragen den neuen Kurs mit – versuchen aber auch, den Sorgen in der Belegschaft Rechnung zu tragen.
Herr Brecht und Herr Lümali, ist die Euphorie des Managements über die Aufspaltung des Konzerns berechtigt?
Brecht Ich habe mir im Vorfeld extrem darüber Gedanken gemacht, ob der Schritt richtig ist. Die Aufspaltung macht aus meiner Sicht viel Sinn, weil wir dadurch bei Daimler Truck voll in Richtung Nutzfahrzeug denken können. Die Nutzfahrzeugthemen haben im Vorstand des Gesamtunternehmens nicht die Priorität in einer Zeit, in der so viele Transformationsthemen diskutiert werden. Die technischen Lösungen sind extrem unterschiedlich. Und alles, was wir im Nutzfahrzeugbereich bisher verdienen, kommt in einen großen Geldtopf. Jetzt geht es darum, dass wir für Daimler Truck eine solide finanzielle Grundausstattung sicherstellen, damit wir noch stärker in neue Technologien investieren können. Im Vorfeld der Trennung haben wir uns auf einen Innovationsfonds geeinigt. Zusammen mit dem, was wir zusätzlich verdienen, haben wir eine Finanzkraft, die wir im Verbund bisher nicht haben. Von daher überwiegen die Vorteile die Risiken.
Im Frühjahr dominierte noch große Unsicherheit. Sind die Truck-Beschäftigten mittlerweile davon überzeugt?
Brecht Wir haben eine zweigeteilte Stimmung: Bei Führungskräften erleben wir eine richtige Aufbruchstimmung. In der Fertigung hingegen ist die Haltung eher abwartend – und es besteht ein Vertrauen darauf, dass letztlich eintritt, was wir sagen.
Lümali Die Euphorie des Vorstands ist erst dann berechtigt, wenn das Vorhaben von Erfolg gekrönt wird. Der Kapitalmarkt hat mit 99,9 Prozent zugestimmt – aber Gewissheit hat niemand. Innerhalb der Belegschaft sind Befürchtungen spürbar – auch weil nicht jedes der früheren Projekte erfolgreich ausgegangen ist. Ich möchte nur an DaimlerChrysler erinnern. Daher war es für uns wichtig, diese Befürchtungen auszuräumen, indem wir wirklich gute Vereinbarungen abgeschlossen haben.
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Es gibt keine Benachteiligung der Truck-Mitarbeiter gegenüber den Mercedes-Leuten?
Lümali Exakt. Die „Zukunftssicherung 2030“ hat weiterhin Gültigkeit für beide Unternehmen. Wir haben die Ergebnisbeteiligung für weitere fünf Jahre gemeinsam zu regeln. Und die Altersvorsorge ist auch abgesichert für beide Unternehmen. Wir nehmen also alle für die Belegschaft relevanten Punkte mit rüber. Die Regelungen sind nicht immer identisch, aber die materielle Größe bleibt gleich. Daher glaube ich, dass wir als Arbeitnehmervertreter das Maximum an Absicherung erreicht haben.
Auf lange Sicht kann es sich verändern?
Brecht Ja. Wir haben den Übergang mit sehr langen Zeiträumen geregelt. Aber wenn die „Zusi 2030“ ausläuft, kann der Pkw-Bereich eine andere Zukunftssicherung machen als der Bereich Nutzfahrzeuge. Wir werden natürlich darum ringen, dass wir in beiden Unternehmen in Zukunft sehr gute Sozialstandards erhalten.
Analysten sehen infolge der Trennung die Gefahr einer feindlichen Übernahme – wie groß ist das Risiko aus Ihrer Sicht?
Brecht Aktive Investoren, die etwas Böses wollen, wird man in jedem System finden. Natürlich haben wir das in den Aufsichtsräten hin und her diskutiert und sind letztlich zu der Meinung gekommen, dass gerade die Situation heute eine feindliche Übernahme in naher Zukunft eher befeuert, weil es für Konglomerate Abschläge beim Börsenkurs gibt. Und was will man überhaupt noch abtrennen? Wir haben unabhängige Marken, aber die Marken hängen mit Plattformstrategien zusammen. Das sind Vorteile, die andere heute gar nicht haben. Übernahmerisiken gibt es immer, aber ich bin persönlich davon überzeugt, dass wir sie minimiert haben.
Truck-Chef Daum sagte ja noch im Februar, dass bis 2033 bis zu 40 Prozent der Stellen überflüssig sein könnten. Mittlerweile gibt es für die großen Standorte Vereinbarungen über die Zukunftsstrategien. Ist die gesamte Beschäftigung damit dauerhaft gesichert?
Brecht Es ist der Beginn einer ganzen Reihe von Vereinbarungen, die wir in der Zukunft abschließen möchten. Ich bin froh, dass wir die Grundlage geschaffen haben, in die neuen Technologien reinzugehen. Für Wörth haben wir vereinbart, dass dort die Elektro- und wasserstoffspezifischen Trucks gebaut werden. Für die drei Powertrain-Standorte Gaggenau, Mannheim und Kassel haben wir uns erstmals auf ein Eckpunktepapier mit neuen Komponenten verständigt. Auf diesen Schulterschluss bin ich stolz – da haben wir ein erstes Zeichen gesetzt, dass wir im Nutzfahrzeugbereich gemeinsam arbeiten möchten. Das löst nicht die Zukunftsthemen, die wir in 20 Jahren noch haben. Wir brauchen noch mehr Technologiekompetenz und deutlich mehr Leute in der Entwicklung. Aber wir haben den Einstieg in die neuen Felder geöffnet – das macht mich zuversichtlich.
Sie haben 1,75 Milliarden Euro für Zukunftsinvestitionen in der Trucksparte gesichert. Ist klar, in welchem Umfang in die Standorte investiert wird?
Brecht Für die drei Powertrain-Standorte bewegt sich das in Größenordnung von rund 500 Millionen Euro. Die sind sicher. Alles andere müssen wir sehen, wenn wir an einzelne Themen rangehen. Da werden wir sicher noch mal ringen. Wir brauchen das Geld aber auch, um in die Entwicklung zu investieren, so wie wir es im Pkw-Bereich seit vielen Jahren machen. 1,75 Milliarden Euro sind viel Geld – aber ob das zum Schluss alles reicht, das weiß ich nicht.
Was bedeutet die Trennung für den Betriebsrat – künftig wird es ja zwei Gesamtbetriebsräte geben. Können Sie da mal die nächsten Schritte beschreiben?
Lümali Wir haben schon im Vorfeld im Gesamtbetriebsrat die Richtung abgestimmt. Wir werden voraussichtlich am 15. Dezember in den dann separaten Gesamtbetriebsratssitzungen eine konstituierende Sitzung haben, wo die GBR-Vorsitzenden und die Kommissionen besetzt werden.
Brecht Ergun ist somit aus heutiger Sicht der designierte Vorsitzende bei Pkw und ich im Nutzfahrzeugbereich.
Lümali Wir werden uns ganz sicher gut abstimmen, damit die Arbeitnehmerrechte auch mit separaten Gesamtbetriebsräten weiterhin stabil bleiben. Wir werden alles dafür tun, die gemeinsame Daimler-Kultur aufrechtzuhalten.
Ist das die größte Herausforderung aus Sicht des Betriebsrats: dass die Belegschaft auseinanderdividiert werden könnte?
Lümali Dass es unterschiedliche Vereinbarungen für die Standorte geben wird, ist klar – das erleben wir heute schon. Künftig werden wir über die IG Metall als unsere Dachorganisation versuchen, unsere Belange über die Standorte hinweg gemeinsam zu vertreten. Am 29. Oktober haben wir den Aktionstag der IG Metall – da werden wir auch diese Themen ansprechen und versuchen, den Zusammenhalt innerhalb der Belegschaften aufrecht zu erhalten.
Könnte die Mobilisierung in Tarifkonflikten darunter leiden?
Brecht Schon heute mobilisiert jeder an seinem Standort. Da sehe ich überhaupt keine Probleme. In Summe hat Daimler in Deutschland 170 000 Beschäftigte – davon 45 000 im Nutzfahrzeugbereich. Dort ist allerdings der Organisationsgrad deutlich höher als im Pkw-Bereich. In Gaggenau ist er größer als 80 Prozent – in Wörth um die 60 Prozent. Wir sind künftig das kleinere Unternehmen, aber noch enger beieinander.
Wie viel Wehmut ist für Sie dabei, wenn Sie nur noch für eine Sparte zuständig sind?
Brecht Natürlich beginnt es bei mir mit etwas Wehmut. Eine Gesamtverantwortung für weltweit bis zu 300 000 Beschäftigte zu haben, das war schon toll. Im Pkw-Bereich habe ich mich über die Jahre um viele Technologiefragen gekümmert. Das hilft mir für meine künftigen Themen. Bei Truck stehen wir da noch am Beginn – da möchte ich alles dafür tun, um Vollgas zu begeben. Die Truck AG ist auch kein kleines Unternehmen, sondern ein starker Dax-Konzern, was die Marktkapitalisierung angeht – Genaues wissen wir da in einigen Tagen.
Herr Lümali, für Sie ist es noch mal ein Karriereschritt?
Lümali Es ist ein Schritt, der auf jeden Fall mit sehr viel mehr Arbeit verbunden ist. Ich bin seit 1994 Betriebsrat und habe lange genug Erfahrungen gesammelt. Lange Zeit war ich als Stellvertreter mit großen Gesamtbetriebsratsvorsitzenden zusammen: mit Erich Klemm und Michael Brecht. Für mich wird es eine Riesenherausforderung, aber ich bin bereit, alle Standorte gleichermaßen zu vertreten. Die Solidarität unter ihnen wird unter der Spaltung nicht leiden.
Wie sehr plagt der Chipmangel den Truck-Bereich?
Brecht Insgesamt haben wir eine so gute Auftragslage wie noch nie. Wir könnten deutlich mehr produzieren, wenn wir mehr Halbleiter hätten. Wir wollen die Kapazitäten in Wörth mit einer dritten Schicht erhöhen. Alles ist vorbereitet, damit wir Vollgas geben können. Wir können aber nicht genau planen – denn es ist nicht nur der Halbleiter, der fehlt. Heute fehlt das, morgen das. Die gesamte Vorliefermaterialkette ist durcheinander. Wir haben keine Bestände mehr dazwischen. Jede kleinste Störung führt dazu, dass das gesamte Gebilde immer wieder stoppt. Alles was wir dieses Jahr nicht ausliefern können, wird sich somit in das nächste oder gar übernächste Jahr reinschieben.
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Also hält die Misere noch länger an?
Brecht Mein innerster Wunsch ist, dass wir bis Ende des Jahres das Gröbste abgearbeitet haben – aber letztlich wird sich das vielleicht erst Mitte nächsten Jahres beruhigen. Solange müssen wir mit den Ausschlägen leben. Immerhin denken jetzt alle darüber nach, ob man diese Belieferungssituation so auf Dauer belassen kann. Das kann dazu führen, dass wir Halbleiterfabriken in Deutschland und Europa bekommen. Auch wahrscheinlich, dass wir hier noch schneller Zellfabriken bekommen und dass überall geprüft wird, ob man solche Schlüsselprodukte nicht auch in Europa produzieren muss.
Lümali Auch bei uns bremsen die kleinen Chips die Produktion aus. Wir könnten deutlich mehr Fahrzeuge produzieren und verkaufen, als wir es jetzt in der Lage sind, weil keine Halbleiter da sind. Alle von Einkauf über Planung, Logistik bis zur Produktion setzen täglich alles daran, von überall, wo möglich, Halbleiter herzubekommen und zu verbauen. Die Kolleginnen und Kollegen leisten da wirklich schier Unmögliches. Und wöchentlich werden wir von der Unternehmensleitung damit konfrontiert, die Produktion umzustellen. Ich kann nur hoffen, dass es sich bis Ende des Jahres beruhigt.
Wie sehr schlägt die Chipknappheit mit all ihren Konsequenzen wie Kurzarbeit der Belegschaft aufs Gemüt?
Lümali Hier in Sindelfingen bekommen wir meistens bis Mittwoch für die kommende Woche die Ansage, wie es laufen wird. Hier haben wir die Situation, dass zum Beispiel eine S-Klasse mit Zusatzschichten auch an Samstagen produziert wird – auf der anderen Seite fehlen in der E-Klasse die Halbleiter. Man muss da sehr achtsam sein, was die nächste Woche mit sich bringt. So eine Situation haben wir so noch nie erlebt. Das ist schon eine Belastung. Auch perspektivisch macht sich die Mannschaft Sorgen. Die kriegen ja mit, was bei Opel in Eisenach passiert – da soll das Werk bis Jahresende geschlossen werden. Unmut ist definitiv da, aber auch Zuversicht, dass da eine Arbeitnehmervertretung die Belange der Belegschaft aufgreift, damit die Mitarbeiter materiell keinen größeren Schaden erleiden. Da müssen die Arbeitnehmervertreter ständig informieren, wo wir stehen, auch um die Ruhe im Team zu bewahren. Hier würde ich mir wünschen, dass das Unternehmen klarer und transparenter über die Umstände und anstehenden Schritte informiert.
Brecht In Rastatt haben wir uns gerade richtig um die Leiharbeiter gestritten. Da sagen wir dem Unternehmen klar: es kann nicht sein, dass wir die Leute einstellen und gleich wieder rausschmeißen. Daran merkt man auch, dass der Ton etwas rauer wird.
Lümali Da werden wir auch in Sindelfingen zum Jahresende deutliche Akzente setzen, dass wir mit der Anzahl unserer Leiharbeiter am Standort nicht mehr einverstanden sind und Gespräche über Festübernahmen führen wollen. Wir werden alles daransetzen, dass auch die Leiharbeiter eine Perspektive und Festeinstellung bekommen.
Zur Person
Michael Brecht
Der 56-jährige Badener startete seine Daimler-Karriere mit einer Kfz-Schlosser-Ausbildung in Gaggenau. Seit 2014 steht er dem Gesamt- und Konzernbetriebsrat der Daimler AG vor. Im Aufsichtsrat ist er somit stellvertretender Vorsitzender.
Ergun Lümali
Der 1962 in Anatolien geborene Schwabe absolvierte einst eine Berufsausbildung zum Konstruktionsmechaniker im Daimler-Werk Sindelfingen. 2014 wurde er dort Vorsitzender des Betriebsrats und Gesamtbetriebsratsvize der Daimler AG.