Vinitha Koshy im Siegerfilm „Ottamuri Velicham – Light in the Room“ Foto: Filmfest

Indien hat mehr zu bieten als Entertainment aus Bollywood: Das Vergewaltigungsdrama „Ottamuri Velicham – Light in the Room“ ist der Gewinner des Indischen Filmfestivals in Stuttgart – und überhaupt mischen sich die Filmemacher des Subkontinents immer häufiger in aktuelle Debatten ein.

Stuttgart - Der große Gewinner des15. Indischen Filmfestivals Stuttgartheißt „Ottamuri Velicham – Light in the Room“. Der abendfüllende Spielfilm von Rahul Niar ist mit dem mit 4000 Euro dotierten German Star of India ausgezeichnet worden. 5000 Besucher hatten an fünf Tagen Indien, die mit 1,3 Milliarden Bewohnern bevölkerungsreichste Demokratie, im Spiegel von 45 Spiel-, Kurz- und Dokumentarfilmen erlebt.

Die riesige Filmindustrie Indiens produziert jährlich mehr als 850 Filme, mehr als Amerika und Japan zusammen. Ein Drittel werden in der Hindisprache gedreht, zwei Drittel in Landessprachen, die in Tamil Nadu, Andhra Pradesh, Kerala oder Karnataka gesprochen werden. Die meisten Festivalbeiträge, die vom Veranstalter – dem Filmbüro Baden-Württemberg – im Stuttgarter Metropol gezeigt wurden, hatten englische Untertitel.

Dass sich die international besetzte Jury bei der Vergabe des German Star of India für „Ottamuri Velicham“ entschied, sendet ein politisches Signal. Der Regisseur Rahul Nair thematisiert in seinem ersten Spielfilm die Vergewaltigung in der Ehe. Sudha (Vinitha Koshy) ist eine junge Frau, die sich nach einer arrangierten Eheschließung ihrem gewalttätigen Mann Chandra erwehren muss. Eingeschlossen in einem Bergdorf, kann sie nicht auf die Solidarität der anderen Frauen hoffen. Traditionell gelten Frauen als Eigentum des Vaters, bis der Ehemann diese Rolle übernimmt. Rahul Nair nutzt die Freiheit des indischen Kinos auch in heiklen Szenen, in denen Chandran seine Ehefrau foltert, immer wieder Sex von ihr fordert und sie demütigt. Doch Nair lässt seine Protagonistin nicht im Elend zurück. Sein Film, bei Festivals im In- und Ausland bereits prämiert, ist ein cineastischer Beitrag zur politischen Debatte in Indien. Erst vor wenigen Monaten hatte der indische Premier Narendar Modi die Vergewaltigung Minderjähriger unter Todesstrafe gestellt.

Im Sog des Monsuns

Eine eher leichte, farbenfrohe Liebeskomödie mit viel Musik brachte Regisseur Onir zur Eröffnung des Filmfestivals mit. Ganz dem Zeitgeist der digitalen Kommunikation ergeben, nähern sich in „Kuchh Bheege Alfaaz“ eine junge Frau und ein junger Mann per Whatsapp einander an. Doch die wahren Geheimnisse des anderen offenbaren sich erst beim realen Treffen. Sie leidet an einer Hauterkrankung, er trägt ein Trauma in sich. Einen Preis allerdings konnten der nach Stuttgart angereiste, sympathische Regisseur und seine Hauptdarstellerin Geetanjali Thapa mit dieser turbulenten und charmanten Komödie nicht mit nach Hause nehmen.

Der mit 1000 Euro dotierte Kurzfilmpreis ging an „Pawasacha Nibandh – An Essay of the Rain“ von Nagraj Manjule. Hauptprotagonist des filmischen Essays ist der nicht endende Monsunregen. Er durchdringt den Stimmen- und Geräuschteppich, legt sich über poetische Bildlandschaften, erzeugt einen Sog, der zum Drama eines Zehnjährigen wird. Ausgerechnet er muss einen Aufsatz über die Regenzeit schreiben. Was komisch sein könnte, wird zur Qual, die Kamera zum Beobachter des mühsamen Alltags in einer armen indischen Familie.

Eigentlich ist die indische Filmindustrie einst angetreten, um Unterhaltung für die ganze Familie zu zeigen. Böse und gute Helden waren auf der Leinwand schnell ausgemacht, Tanz und romantischer Gesang ersetzten ernste Themen. Ein Filmporträt des 1967 in Mumbai geborenen Shankar Mahadevans gab Einblicke in den Hindi-Film: In einer Mittelschicht-Familie mit hinduistischer klassischer Musik aufgewachsen, zieht der Komponist und Sänger seinen Nutzen auch aus seinen Kenntnissen als Softwareingenieur. Das eher unbekannte Indien porträtieren Anushka Meenakshi und Iswar Srikumar mit „Kho Ki Pa Lü“. In ihrer 83-Minuten-Dokumentation zeigen sie, wie Gesang und Rhythmus die Arbeit von Menschen im Bundesstaat Nagaland anfeuern. Wird Getreide gedroschen, gibt ein Vorsänger das Metrum vor, die übrigen Arbeiter stimmen ein, um anschließend mit der Kraft ihrer bloßen Füße Körner und Stroh zu trennen.

Nagaland hat zwei Millionen Einwohner und liegt an der Grenze zu Myanmar; die Nagas pflegen ihre archaische Lebenskultur. Die Dokumentation von Meenakshi und Srikumar ist in Stuttgart als „Bester Dokumentarfilm“ ausgezeichnet worden. Der Directors Vision Award ging an den Spielfilm „Love and Shukla“ von Siddartha Jatla, der mit 1000 Euro dotierte Publikumspreis an „Sisya – The Disciple“ von Saraswathi Balgam. Dem Anliegen des Veranstalters, Indiens Herzschlag spürbar zu machen, ist das im Zeichen von fünfzig Jahren Städtepartschaft Stuttgart-Mumbai stehende Festival vollauf gerecht geworden – und auch den Bedürfnissen des Publikums: Es war fünf Tage lang begeistert.