Die zerstörte Stuttgarter Innenstadt 1945. Foto: dpa

Wie haben Baden-Württemberger das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt? Wir veröffentlichen an dieser Stelle in Auszügen Erinnerungen unserer Leserinnen und Leser.

Stuttgart - Christa Knauß (89) beschreibt, wie schwer es ihr fiel, mit der neuen Situation zurechtzukommen:

„Am Abend des 19. April 1945 legte sich die Angst wie Blei auf unser Dorf und die Menschen in Waldhausen. Lorch war von den Amerikanern besetzt worden. Wir hörten von Ferne das Grollen der Artillerie und das Rasseln der Panzer, das nicht aufhören wollte. Als es dunkel wurde, war klar, dass die Amerikaner an diesem Tag nicht mehr nach Waldhausen kommen würden.

Wir richteten uns darauf ein, im Keller zu übernachten. Für meine kleineren Geschwister legten wir über die Fässer hinweg Dielen, und darauf kam das Bettzeug. Die Kinder hatten ihren Spaß an den eigentümlichen Betten und erlebten das Ganze als amüsante Unterbrechung des Alltags. Sie erfassten noch nicht den Ernst der Stunde. Anders wir Erwachsenen. Meine Mutter hatte im Ersten Weltkrieg in Lothringen die Besetzung durch die Franzosen erlebt und war deshalb nicht so ängstlich wie ich. Sie hielt sich die Nacht über meist oben in der Wohnung auf und hörte auf die Geräusche, die von Lorch her zu uns drangen. Ich hockte auf der Kellertreppe und passte auf meine Geschwister auf. In meinem Herzen war eine große Traurigkeit darüber, dass nun alles vorbei war: die gemütlichen Heimabende, das gemeinsame Singen, die Wanderungen, das Tanzen und Spielen. Nie wieder werden wir Gemeinschaft in der Hitlerjugend erleben. Mit dem verlorenen Krieg sind auch unsere Ideale und unser Glaube an Deutschland untergegangen. So dachte ich.

Um die Mittagszeit fuhr der erste Panzer ins Dorf, und viele, viele folgten. Mich schauderte es, als ich die Übermacht und den Reichtum an Waffen sah, und ein tiefes Ohnmachtsgefühl ergriff mich, wenn ich an unser armes, zertretenes, ausgelaugtes Deutschland dachte. Mein Vater und ein Nachbar beobachteten den Einzug der Amerikaner. Beide hatten sehr bedenkliche Gesichter und redeten kein Wort, der Zusammenbruch war so groß, dass sie es nicht in Worte fassen konnten. Sie waren ja noch als blutjunge Männer Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen und hatten schon einmal das Ende eines verlorenen Krieges erlebt. Alte, vergessene Kriegsnarben bluteten wieder.

Das Leben ging weiter mit viel Hunger und Entbehrung. Bei uns gab es fast jeden Tag Kraut und Kartoffeln. Die Kinder bekamen in der Schule einen weißen Brei, der nach Vanille schmeckte, die sogenannte Hoover-Speisung. Sie bestand aus Magermilchpulver, Haferflocken und Rosinen. Nur unterernährte Kinder bekamen davon.

Als ich einmal mit einem Korb voll Kartoffeln und Gemüse auf dem Heimweg vom Äckerle war, musste ich am HJ-Heim vorbeigehen. An allen Fenstern hingen Amis heraus, sie pfiffen und riefen hinter mir her, ich ging schnell weiter. Auf einmal war ein Ami neben mir und wollte mir meinen Korb abnehmen. Ich erschrak, im Korb war doch unser Mittagessen. Er hatte aber keine böse Absicht, sondern wollte mir den Korb nach Hause tragen. Das wollte ich aber auf keinen Fall, hatte ich doch bis vor kurzem noch hier mit meinen Jungmädeln Dienst gemacht. Das wäre mir wie Verrat vorgekommen. Er ging ein Stück mit, bis ich ihn böse anschaute und den Korb an mich riss. Der Ami drehte sich um und haute ab.

Anfang Mai erlebten meine Familie und ich eine so große Freude, die gar nicht zu beschreiben ist. Eines Abends stand mein älterer Bruder vor der Haustür. Wir umarmten uns, und ich rief ins Haus: ‚Kommt alle, der Hansi ist zurückgekommen, jetzt ist der Krieg aus!‘ Abgemagert, mit zerrissenen, dreckigen Kleidern stand er vor uns, aber er war da, das war die Hauptsache. Er hatte sich, zusammen mit einem Kameraden, von Dresden bis nach Waldhausen heimlich durchgeschlagen, bettelnd, von Bauernhof zu Bauernhof. Nachdem er in Aalen in einem Auffanglager der Amerikaner Entlasspapiere bekommen hatte, konnte er sich als freier Mann bewegen.

Noch einmal hatte ich eine Begegnung mit amerikanischen Soldaten. Im Sommer trafen wir Mädchen aus der Nachbarschaft uns im Garten und sangen sentimentale Lieder, die meist von Abschied und Tod handelten. Durch unseren Gesang angelockt, kamen die Amerikaner heran. Einer von ihnen konnte ganz gut Deutsch, sein Großvater sei aus Deutschland nach Amerika ausgewandert. Er sang uns einige deutsche Weihnachtslieder vor. Das war eine unerwartete Situation, wir wussten gar nicht, wie wir uns verhalten sollten, sie waren doch unsere Feinde. Da sie aber höflich und anständig waren, ließen wir uns auf ein Gespräch ein. Der Deutschstämmige sagte, er hätte im Deutschunterricht das Lied ‚Ich weiß nicht, was soll es bedeuten‘ gelernt, und wir sollten es doch singen. Wir sagten, wir dürften dieses Lied nicht singen, weil es von einem Juden sei. Für diese Antwort schäme ich mich heute noch. Was der Ami wohl zu Hause über uns erzählt hat? Wahrscheinlich, dass der Nationalsozialismus und der Rassismus in Deutschland noch fest in den Köpfen der Leute steckt. Wir aber haben die Erfahrung gemacht, dass die ‚Feinde‘ auch Menschen sind, so wie du und ich, die gottfroh sind, wenn sie wieder heil nach Hause kommen.

Ich selbst hatte mich noch lange nicht vom nationalsozialistischem Gedankengut befreit. Wenn man zehn Jahre lang hört und liest, dass wir die edlen Herrenmenschen sind, dann glaubt man das. So war am Rathaus ein großes Plakat aufgehängt, auf dem riesige Leichenberge von im KZ ermordeten Menschen zu sehen waren. Ich konnte nicht glauben, dass diese Aufnahmen der Wahrheit entsprachen, und hielt sie für Propaganda der Siegermächte, mit der sie uns moralisch demütigen und erniedrigen wollten. So dachte ich damals.“

Aufgezeichnet von Kathrin Brenner