20 Jahre Seehaus Leonberg verträgt etwas Großes: GiO, Gospel im Osten gastierte mit eigenen Songs genau wie Kevin, ein Ehemaliger, der zwei Rap-Songs dabei hatte. Foto: Simon Granville

Seit 20 Jahren hilft das Seehaus Modellprojekt jungen Straffälligen auf ihrem Weg zurück in die Gesellschaft – und dabei, straffrei zu bleiben. Zum Festwochenende tritt Gospel im Osten auf, und ein Ehemaliger präsentiert eigene Rap-Songs. Am Montagabend Lesung mit Joe Bausch.

20 Jahre Seehaus, das ist für den geschäftsführenden Vorstand Tobias Merckle Grund genug, drei Tage lang kräftig zu feiern. Zur Eröffnung des Festwochenendes hat er am Samstag die rund 350 Sängerinnen und Sänger des Stuttgarter Chors „Gospel im Osten“ zum Open Air Konzert auf die große Wiese am Glemseck eingeladen.

Dabei hat Merckle schon am Aufbautag immer einen bangen Blick gen Himmel gerichtet – ob wohl das Wetter hält? Denn die Bühnen- und die Technikaufbauten für ein so großes Open-Air-Event sind eine logistische Herausforderung. Das Besondere an diesem Chor ist seine Größe und dass jeder mitsingen kann, unabhängig von Alter, Herkunft oder Konfession. „Gospel im Osten“, oder kurz „GiO“ ist im Jahr 2005 in der evangelischen Heilandsgemeinde in Stuttgart-Ost entstanden, derweil ist GiO in der Friedenskirche am Stuttgarter Neckartor zu Hause. Er brillierte erst vor wenigen Wochen mit einem Konzert vor Schloss Solitude.

Der Chor verbindet Generationen und Konfessionen, bringt Menschen zusammen. In den einzelnen Chor-Projekten proben bis zu 500 Sängerinnen und Sänger unter der Leitung von Tom Dillenhöfer. Das schafft ein großes Gemeinschaftsgefühl, bei dem der Spirit, der Groove des Gospels, auch auf die Besucher überspringt.

Zu den Sängerinnen gehört seit 14 Jahren auch die Leiterin des Strafvollzugs des Seehauses, Irmela Abrell, der es ein besonderes Anliegen war, ihren Chor zum Seehaus zu bringen. Alle 15 Songs des aktuellen Konzertprogramms „The Simple Things“ wurden von Mitsängerinnen und Mitsängern getextet und teilweise auch komponiert. Entstanden in der Coronazeit mit ihren Einschränkungen, sind es Texte, die von den einfachen aber doch schönen Dingen des Lebens berichten.

Das Seehaus ist ein gemeinnütziger Verein, der neben einer offenen Form des Strafvollzugs für Jugendliche in den Bereichen Opferhilfe, Straffälligenhilfe und Prävention tätig ist. Jugendliche bekommen die Chance, sich außerhalb von Gefängnismauern und der damit verbundenen negativen Beeinflussung auf ein Leben ohne Straftaten vorzubereiten. So wie Kevin, ein ehemaliger Bewohner, der während seines Aufenthalts im Seehaus eine Ausbildung zum Garten- und Landschaftsbauer begonnen hat, die er jetzt in Freiheit weiterführt. „Das Seehaus hat mir super geholfen“, sagt er und präsentiert auf der Bühne zwei von ihm selbst getextete Rap-Songs.

Junge Ex-Inhaftierte bringen Album raus „Stand:Haft“

Auch das ist Teil des Seehaus-Konzeptes. Im Rahmen der Nachsorge entstand das Rap-Album „Stand:Haft“, auf dem Ehemalige ihre Geschichte erzählen. Die Arbeit im Rap-Projekt hilft ihnen, in Zukunft den geraden Weg zu gehen und standhaft zu bleiben. Ab 14. Oktober sind die Songs auf Streaming-Plattformen zu hören, und darin textet Kevin: „Ja, der Teufel, er klopft doch – ich besieg ihn in meinem Kopf.“

Jugendliche und Heranwachsende zwischen 14 und 23 Jahren, die bereit sind, an sich zu arbeiten, können sich vom Jugendstrafvollzug aus für das Seehaus bewerben. Hier wohnen sie in drei Familien mit Hauseltern und deren Kindern zusammen und erfahren so oft zum ersten Mal ein funktionierendes Familienleben und Geborgenheit.

Sechs Uhr aufstehen und schaffen gehen

Gleichzeitig erwartet sie ein durchstrukturierter Arbeitsalltag, der morgens kurz vor sechs Uhr mit Frühsport beginnt. Zahlreiche Besucher nutzten am Jubiläumssonntag bei einem Tag der offenen Tür die Gelegenheit, die Einrichtung näher kennenzulernen. Dazu hat das Seehaus Führungen durch die Arbeitsbereiche organisiert, neben Garten- und Landschaftsbau sind das die Zimmerei, Schreinerei und der Bereich Metallbau.

Zum Abschluss gastiert am Montag um 18 Uhr im Zelt auf der Seehaus-Wiese der Arzt, Schauspieler und Autor Joe Bausch. Der frühere Anstaltsarzt in Deutschlands größtem Hochsicherheitsgefängnis in Werl ist als Gerichtsmediziner aus dem Köln-Tatort bekannt geworden. Er liest aus seinem Buch „Maxima Culpa, jedes Verbrechen beginnt im Kopf“. Bausch erklärt darin anhand realer Fallbeispiele, wie Verbrechen entstehen.

Anmeldung zur Lesung und nähere Infos auf der Seehaus-Homepage: https://seehaus-ev.de

Offener Vollzug für ein straffreies Leben

Strafvollzug
 Der Jugendhof Seehaus bietet jugendlichen Straftätern einen Strafvollzug in freier Form. Viele kommen aus der Justizvollzugsanstalt Adelsheim. Nicht aufgenommen werden akut Drogenabhängige, Sexualstraftäter oder wegen vorsätzlicher Tötungsabsicht Verurteilte. Bis zu 15 Jugendliche zwischen 14 und 23 Jahren können hier unterkommen. Sie leben in Wohngemeinschaften und in Familien integriert.

Ausbildung
Während ihres Aufenthalts können die Jugendlichen ihren Hauptschulabschluss nachholen und eine Lehre beginnen. Dabei können sie aus verschiedenen Bauberufen wählen oder auch in der Metallwerkstatt lernen. Sie bleiben mindestens ein Jahr im Seehaus, wo sie sich jeden Tag beweisen müssen. Für manche ist es die erste Zeit ihres Lebens mit Strukturen und einer familiären Umgebung.