Szene aus Orwells „1984“ im Alten Schauspielhaus Foto: Frahm

Ryan McBryde inszenierte George Orwells düsteren Zukunftsroman „1984“ actionreich im Alten Schauspielhaus.

1984 überwachen die eisigen Augen des Big Brother, des Großen Bruders, jeden Winkel des gigantischen Staats Ozeanien. Der Mensch kann parieren – oder vaporisiert und aus den Geschichtsbüchern gelöscht werden. „Wir sind Tote“, konstatieren daher Winston (Ralf Stech) und Julia (Tina Eberhardt). Wissend, dass die omnipräsente Staatspartei ihr Delikt – die Liebelei – bald aufdecken und ahnden wird. Aus dem Nichts eine blecherne Stimme: „Ihr seid Tote!“ Das Publikum zuckt zusammen. Ummantelt von onyxschwarzer Vollpanzerung stürmt die Exekutive das Parkett des Alten Schauspielhauses und schließlich auf die Bühne.

„Hexenjagd“ und „Frühlings Erwachen“ hatte Regisseur Ryan McBryde zuletzt ansehnlich in Szene gesetzt. Visuell überzeugt auch die Inszenierung von George Orwells düsterem Zukunftsroman „1984“ am 5. Februar. Dunkle Klötze offenbaren mal Winstons Heim, mal das geheime Versteck des Paares. Projektionen freier Natur überlagern ab und an das Gefängniszellengrau der Bühne (Ausstattung: Diego Pitarch). Allein – den vorherigen Stücken lagen mit Miller und Wedekind großartige Dramatiker zugrunde. Die neue Produktion fußt auf der Adaption des Briten Alan Lyddiard, und diese beraubt Orwells Meisterwerk seiner Genialität.

Blinkend heulen die Sirenen, fiepende Elektrizität und schummriges Neonlicht evozieren Unbehagen. Vom gewaltigen Teleschirm im Hintergrund sendet, empfängt und diktiert wütend Elsa Hanewinkel als Parteifunktionär. Launig und medienlastig tobt sich das Technikteam aus (Lichtdesign: Ben Cracknell, Video: Jan Karlsson, Sascha Vredenburg). Zum atmosphärischen Höhepunkt avanciert der Zwei-Minuten-Hass: Das Schauspielkollektiv geifert herrlich aufgebracht in Richtung des lediglich auf der Leinwand existenten Staatsfeinds Emmanuel Goldstein (Armin Jung), der wohl nicht zufällig ausschaut wie Edward Snowden. Overalls erinnern an Guantánamo- Häftlinge, darauf befindliche QR-Codes repräsentieren den Homo sapiens digitalis, der sich wider besseres Wissen zum Datenklumpen degradiert.

Mit solchen Kleinigkeiten setzt das Stück zielsichere Nadelstiche, doch das Gewebe krankt in der Konzeption. Andreas Klaue peinigt als Parteiarm O’Brien solide, doch ein Drittel der Zeit muss Stech, dessen Paraderolle dieser Winston nicht ist, Folterschmerzen mimen. So verkümmert Orwells gedankenreiche Zukunftsvision zu einem kalten Beweis der Macht: Ja, ein skrupelloser Staatsapparat kann auch den menschlichen Geist attackieren. Die Gedanken sind frei? Ein uralter Irrglaube, der sich nur in Volksliedern tirilierender Optimisten hält.

Die Adaption unterschlägt Orwells Kritik an der bestehenden Gesellschaft: beispielsweise, dass die Überproduktion im Zuge der Industrialisierung verhindern könnte, dass Menschen den Hungertod sterben. Doch eine Gleichverteilung der Güter gefährdet eben hierarchische Strukturen. Menschen lassen Menschen bewusst verhungern – Fiktion oder Realität? Beides. Die 85 reichsten Erdenbürger besitzen derzeit mehr als die Hälfte der ärmeren Globusbevölkerung, das sind dreieinhalb Milliarden Individuen.

Actionlastig dank McBrydes Umsetzung, verkündet Lyddiards Fassung letztendlich bloß eine abschreckende Banalität: Der perfekte Überwachungsstaat kann alles, nur nicht gestürzt werden. Bedingungen und Anfänge akzentuiert sie nicht – in Großbritannien filmen in diesem Moment mehr als vier Millionen Kameras die Bürgersteige.

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