Feier mit den Fans: Hoffenheims Trainer Markus Gisdol. Foto: dpa

1899 Hoffenheim will in der Bundesliga weiter Offensivfußball zelebrieren – und gleichzeitig die Defensive stärken.

Stuttgart/Zuzenhausen - Der Fußball und die Zahlen, das ist manchmal eine schwierige Sache. Zahlen können in die Irre führen, sie können täuschen und einen falschen Eindruck erwecken. Dann zum Beispiel, wenn eine Mannschaft 70 Prozent Ballbesitz hat, 60 Prozent ihrer Zweikämpfe gewinnt, obendrein 20 Flanken schlägt – und am Ende mit Nullfünf verliert.

Zahlen können lügen – bei 1899 Hoffenheim sagen sie die Wahrheit. Zumindest dann, wenn es um die Tore geht. 72:70. In Worten: Zweiundsiebzig zu siebzig. Das war das Torverhältnis der Kraichgauer in der vergangenen Saison. Mehr als zwei geschossene Treffer im Schnitt pro Partie – und mehr als zwei kassierte. Nur der FC Bayern München und Borussia Dortmund erzielten mehr Tore (94 und 80), nur der HSV kassierte mehr (75). Und wer die Hoffenheimer so spielen sah, wer beobachtete, wie sie wild nach vorne stürmten und die Abwehr einfach Abwehr sein ließen und so Tor um Tor kassierten, der wusste auch: Irgendwie musste es fast so kommen mit diesem verrückten Torverhältnis – und irgendwie war es schon vor der Vorbereitung auf die neue Saison klar, woran Trainer Markus Gisdol mit seinen jungen Draufgängern arbeiten muss. Und in welchem Bereich 1899 sich personell verstärken muss: in der Defensive.

Nach wie vor wollen sie in Hoffenheim Offensivfußball zelebrieren. Sie wollen den Gegner tief in die eigene Hälfte drängen und nach Balleroberungen und ein paar schnellen Pässen zum Abschluss kommen. Allerdings wollen sie jetzt mit etwas mehr Bedacht auf die Tube drücken – und, je nach Gegner und Spielstand, auch mal das Gas rausnehmen. Balance ist das neue Zauberwort. Und für das richtige Maß zwischen Draufgängertum und defensiver Stabilität haben sie sich ihre Neuen ausgesucht. „Wir mussten uns in der Defensive breiter aufstellen“, sagt Sportdirektor Alexander Rosen dazu.

Innenverteidiger Ermin Bicakcic, der von Eintracht Braunschweig kam und in Fachkreisen Eisen-Ermin genannt wird, steht für eine neue rustikale Note in der Abwehr. Der Schweizer Pirmin Schwegler, ein anerkannter Defensiv-Stratege im Mittelfeld, steht sinnbildlich für das Streben nach der neuen Ordnung, er kam von Eintracht Frankfurt. Dazu haben die Hoffenheimer mit Oliver Baumann, der vom SC Freiburg zu 1899 wechselte, eines der größten Torhütertalente des Landes für sich gewonnen. Wenn die Neuzugänge die Gegentorflut tatsächlich eindämmen können, ist für 1899 Hoffenheim womöglich der Einzug ins internationale Geschäft drin – genau dann nämlich, wenn die Offensive parallel dazu ähnlich furios aufspielt wie in der vergangenen Saison.

Roberto Firmino und Kevin Volland sind Ausnahmekönner, und in Adam Szalai, der für sechs Millionen Euro vom FC Schalke kam, scheint 1899 jenen Stoßstürmer gefunden zu haben, der die rasenden Kombinationen im Zentrum abschließen kann.

Markus Gisdol spricht offiziell von Platz acht bis zwölf als Saisonziel. Insgeheim aber erhoffen sie sich mehr bei 1899, nur offen aussprechen will das niemand mehr. Die Zeiten überhöhter Erwartungshaltungen sind vorbei, Gisdol und Alexander Rosen prägen in der Öffentlichkeit den neuen Realismus und die neue Bescheidenheit. Die Großmannssucht der Hoffenheimer Anfangsjahre in der Liga, als mit dem Geld von Mäzen Dietmar Hopp alles möglich schien und am Ende regelmäßig so gut wie nichts erreicht wurde, sie sind vorbei.

Wichtig sind nicht die Ansprüche – wichtig ist erst mal die Spielweise, und da hat Markus Gisdol einen klaren Plan. „Wir wollen am liebsten auch immer den Ball haben“, sagt der Coach, „aber vor allem wollen wir ihn so schnell wie möglich zurück haben, wenn wir ihn verlieren, weil wir dann wiederum schnell zum Abschluss kommen wollen.“ Und um einem Schlendrian in der Defensive vorzubeugen, schiebt Gisdol den entscheidenden Satz hinterher: „Wenn ein Spieler nach einem Ballverlust stehen bleibt und nicht umschaltet, gibt es Ärger.“ Allerdings betont Gisdol auch den Offensivgeist seiner Jungs. „Unsere Spieler haben schon eine unglaubliche Lust entwickelt, um den Gegner zu jagen, zu pressen“, sagt er, „da wollen wir keine Handschellen anlegen.“

Hoffenheim steht ein Drahtseilakt zwischen Risikofußball und der angestrebten neuen Stabilität bevor. Ob er gelingt? Auch der Blick aufs Torverhältnis dürfte am Ende wieder Aufschluss darüber geben.