Menschenkette der Friedensbewegung am 22.10.1983 in Neu-Ulm Foto: dpa

Vor 125 Jahren ist die Deutsche Friedensgesellschaft gegründet worden. Im Interview erinnert der Militärhistoriker Wolfram Wette an eine Zeit, in der Militarismus Staatsdoktrin war, spricht über die deutsche Wiederbewaffnung und die Gefahren durch den heutigen Populismus.

Stuttgart/Waldkirch - Seit den 80er Jahren Deutschland als das Land der Friedensbewegung. Doch bis zur berühmten Menschenkette, bei der im Oktober 1983 bis zu 400 000 Menschen gegen die Nato-Nachrüstung demonstrierten, war es für die Deutschen ein weiter Weg, sagt der Freiburger Geschichtsprofessor Wolfram Wette. Am Samstag spricht er zum 125-jährigen Bestehen der Deutschen Friedensgesellschaft im Stuttgartger Theaterhaus.

Herr Professor Wette, am Ende der Weimarer Republik stand ausgerechnet ein Weltkriegsgeneral an der Spitze der Deutschen Friedensgesellschaft. Jetzt halten Sie als ausgewiesener Militärhistoriker den Jubiläumsvortrag. Muss man sich schon wieder solche Sorgen um den Frieden machen?
Nicht bei uns in Deutschland und nicht in der Europäischen Union. Hier haben wir einen strukturellen Frieden. Aber dass Paul Freiherr von Schoenaich als ehemaliger General Präsident der Friedensgesellschaft wurde, ist natürlich bemerkenswert. Der Erste Weltkrieg war von den Deutschen der damaligen Zeit ganz unterschiedlich wahrgenommen worden. Die einen wollten sich mit dem Ergebnis nicht abfinden, die anderen sagten: So etwas darf nie wieder kommen. Die Plakate hießen „Nie wieder Krieg“. Bis 1925 wurden sie vielerorts auf die Straßen getragen. Innerhalb dieser Gruppe waren auch Offiziere, die sich von Militaristen zu Pazifisten gewandelt haben. Zu denen hat von Schoenaich gehört.
Und Ihr Weg als Militärhistoriker?
Wenn ich mich speziell für diese Offiziere interessiert habe – es waren ja 15 bis 20 –, dann hat das natürlich auch einen biografischen Hintergrund. Vielleicht kann man sagen, dass einige Vertreter der historischen Friedensforschung einen ähnlichen Wandlungsprozess durchlaufen haben.
Die DFG wird 125 Jahre alt. War Deutschland damit früh dran?
Als 1892 – übrigens durch zwei Österreicher – die DFG gegründet wurde, hat es so etwas in anderen Ländern wie England, Frankreich oder USA längst gegeben. Auch da hat sich die Niederlage der Demokraten in der Revolution von 1848/49 ausgewirkt. Hinzu kam der Militarismus in Preußen-Deutschland. Es gab einen verbreiteten Glauben – so muss man das bezeichnen –, dass der Krieg eine Naturnotwendigkeit ist.
In den Ersten Weltkrieg, so heißt es heute, seien alle Nationen hineingeschlittert. . .
Im Gegensatz zu dem australischen Kollegen Christopher Clark, der ein vielgekauftes Buch zu diesem Thema verfasst hat, bin ich der Auffassung, dass diese These vom Hineinschlittern einen apologetischen Charakter hat und die wahren Verantwortlichkeiten verschleiert. Nach meiner Kenntnis von Quellen und Forschung gilt nach wie vor, dass Deutschland die Hauptkraft war, die diesen Krieg wollte, und die es geschickt eingefädelt hat, so dazustehen, als sei sie angegriffen worden. Mit dieser Kriegslüge hat das Deutsche Reich fünf Jahre lang Krieg geführt und anschließend Jahrzehnte lang verdeckt, wo die Ursachen lagen. Im Grunde ist die Kontroverse auch 100 Jahre danach noch nicht ausgestanden.
1945 waren die Deutschen geheilt von allen Kriegsgelüsten. Dennoch kam es zur Wiederbewaffnung. Warum?
Bis 1949 herrschte in Deutschland eine große Erschöpfung. Selbst ein Mann wie Franz Josef Strauß hat damals gesagt: „Wir Deutschen dürfen nie wieder ein Gewehr in die Hand nehmen.“ Dann kam Adenauer mit seiner Politik der Westintegration und der Wiederbewaffnung und hat damit keine große Freude ausgelöst. Die Aufstellung der Bundeswehr 1955 wurde gegen eine Bevölkerungsmehrheit durchgedrückt.
Der organisierte Pazifismus stand unter Bolschewismusverdacht.
Dieses Argument war schon 1918/19 von Rechts relativ erfolgreich genutzt worden, und Adenauer hat dies nach 1949 wiederbelebt und alle Gegner seiner Wiederbewaffnung als fünfte Kolonne Moskaus gebrandmarkt. Es hat damals mehr als 100 000 gerichtliche Verfolgungen von Gegnern der Wiederbewaffnung gegeben, obwohl die bei Weitem nicht alle Kommunisten waren.
Es gab keine Unterwanderung?
Es gab in der Friedensbewegung immer auch Kommunisten. Darunter waren Idealisten, aber auch solche, die zwischen guten östlichen und bösen westlichen Raketen unterschieden haben . Das hat der Organisation massiv geschadet. 1989 kam noch heraus, dass einzelne Landesverbände der DFG sogar Geld von der DKP angenommen hatten. Das führte fast zur Spaltung.
In den Jahren davor war der Pazifismus zur Massenbewegung geworden.
Der Kampf gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in den 80er Jahren ist eine Zäsur. Menschen aus allen Berufsgruppen engagierten sich. Die Sicherheitspolitik, die ja eigentlich eine Unsicherheitspolitik war, wurde breit diskutiert. Es gab viel Kompetenz in der Bevölkerung. Auch damals war nach allen Umfragen eine Mehrheit auf Seiten der Nachrüstungsgegner. Spätestens seit dieser Zeit kann man davon sprechen, dass aus der militarisierten deutschen Gesellschaft eine friedliebende geworden ist. Erst jetzt ist die Gefahr groß geworden, dass es wieder in eine andere Richtung laufen könnte.
Sie erkennen in der deutschen Innenpolitik einen neuen Hang zum Militarismus?
Ich denke, dass die alte Vokabel Militarismus nicht mehr zieht. Die Populisten fordern ja keine massive konventionelle Aufrüstung und wollen nicht den Militarismus des 19. Jahrhunderts wieder beleben, aber sie knüpfen an die Tradition völkischer Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts an. Wenn in einer Partei wie der AfD der Gedanke geäußert werden kann, dass man auf Flüchtlinge notfalls schießt, dann zeigt das ein Gewaltverständnis, das mit Demokratie nicht zu vereinbaren ist. Denn Demokratie heißt ja gewaltfreie Konfliktaustragung.
Dann ist nach 1990 nichts besser geworden?
Doch. Durch das Ende der großen Konfrontation zwischen Ost und West hat sich die Gefahr eines Atomkriegs stark verringert. Die Wehrpflicht wurde abgeschafft. Der DFG ist damit sogar ein wichtiges Betätigungsfeld, die Begleitung von Kriegsdienstverweigerern, abhanden gekommen. Im Zentrum pazifistischer Kritik steht ja nicht mehr das eigentliche Militär. Heute geht es vor allem um die Waffenexporte und die Auslandseinsätze. Überall dort, wo man nach 1990 militärisch eingegriffen hat, war das Resultat eher katastrophal.