Keine Autos, dafür Fußgänger, Pferdekutschen und elektrische Straßenbahnen: Der Stuttgarter Schlossplatz circa im Jahr 1905 Foto: Archiv SSB/SHB

Eine Zeitreise ins späte 19. Jahrhundert können Besucher an diesem Wochenende in Bad Cannstatt erleben. In der Straßenbahnwelt im Veielbrunnenweg nahe des Wasens wird an die Anfänge der elektrischen Straßenbahn in Stuttgart erinnert.

Stuttgart - Es war im Oktober 1895, als „eine Revolution des innerstädtischen Verkehrs“ stattfand. So zumindest stuft Nikolaus Niederich, Vorsitzender des Vereins Stuttgarter historische Straßenbahnen, jene Entwicklung ein, durch die der personalintensive und teure Pferdebahnbetrieb überflüssig wurde und binnen zweier Jahre aufs Abstellgleis kam.

„Damals war der Fußgänger das Maß aller Dinge, es hat in Stuttgart allenfalls so um die 30 Automobile gegeben“, sagt der promovierte Historiker. Und nun, pünktlich zum Beginn des auch damals schon beliebten Cannstatter Volksfests, rumpelten im Herbst vor 120 Jahren die ersten elektrischen Triebwagen der Stuttgarter Straßenbahnen AG durch die Neckarstraße.

Neue elektrische Bahn war für die meisten Bürger ein Schock

Wenn heutzutage Besucher der Stuttgarter Straßenbahnwelt nahe des Wasens in einen historischen Straßenbahnwagen steigen und entzückt von der „gemütlichen und guten alten Zeit“ schwärmen, dann hat dies für Niederich mit den damaligen Verhältnissen nur wenig zu tun. Die neue elektrische Bahn war für die meisten Bürger ein Schock: „Jetzt hatten sie plötzlich ein Gefährt mitten in der Stadt, das in der Spitze auf 15 bis 20 Stundenkilometer kam.“ Was für uns heutzutage als Schneckentempo erscheint, war um 1900, als Pferde- und Ochsengespanne das Straßenbild bestimmten schier unfassbar. „In Leserbriefen in den Gazetten aus jener Zeit beklagten sich die Bewohner der Neckarstraße bitterlich: Bei der Höllengeschwindigkeit dieser Blitzkarren kann keiner mehr unbeschadet über die Straße gelangen.“

Nützlich war die elektrische „Strambe“, so die schwäbische Abkürzung für die Straßenbahn, vor allem für die Bewältigung der Hanglagen. Wuchs die aufstrebende Industriestadt doch binnen weniger Jahrzehnte immer weiter die Hügel hinauf. „Mit den Pferden dort hochzufahren war oft eine elende Quälerei.“

Die Fahrgäste in den neuen elektrischen Straßenbahnen entstammten übrigens zumindest in der Anfangszeit den gutbürgerlichen Kreisen. „Es war sauteuer, ein Industriearbeiter mit seinem Stundensatz von vielleicht 80 Pfennig konnte sich das gar nicht leisten; denn die einfache Strecke kostete immerhin 25 Pfennig“, sagt Niederich.

Nicht ganz aus den Anfängen, aber doch aus dem Jahr 1904 stammt der Triebwagen 222, der somit heuer sein 111-jähriges Bestehen feiert. Das heutige Schmuckstück des Vereins historische Straßenbahnen war seinerzeit bis Mitte der 1930er Jahre im Personenverkehr unterwegs, wurde später zum Streusalz-Transporter umfunktioniert und 1968 zum 100-Jahr-Straßenbahnjubiläum in Stuttgart restauriert. Eine Besonderheit sind die Plattformen vorne und hinten, auf denen neun Personen stehen durften – in eiskalten Wintern sicher kein Vergnügen. Im Waggon selbst gab es 16 Sitzplätze. Dieser Oldie kann am Wochenende in Wasennähe beim Doppelgeburtstag (120 Jahre elektrische Straßenbahn, 111 Jahre Triebwagen 222) ebenso bestaunt wie bestiegen werden: Knapp acht Minuten zuckelt der 222 über die Schienen rund um die Straßenbahnwelt.

Zum Sommerest hat die Straßenbahnwelt, Veielbrunnenweg 3, an diesem Samstag und Sonntag (10 – 17 Uhr) geöffnet. Zudem gibt’s Sonderfahrten mit historischen Straßenbahnen und Omnibussen.