Zum Abschied: Ines und Harry Graf sitzen im Trainingsraum ihrer Praxis, die sie 25 Jahre lang betrieben haben. Foto: Dominik Florian

Der Physiotherapeut gibt seine Praxis in der Hornbergstraße schweren Herzens ab und geht in Rente.

Kornwestheim - Lächelnd geht Harry Graf durch den Geräteraum seiner Praxis. In seinem Blick, den er seiner Frau Ines zuwirft, ist aber auch Wehmut zu erkennen. Sein Beruf als Physiotherapeut ist für ihn mehr als nur Arbeit. Dank ihm hat er seine Frau kennengelernt und auch Schicksalsschläge verarbeitet. „Das hier ist wie unser zweites Wohnzimmer“, sagt der 66-Jährige und blickt aus dem Schaufenster auf die Hornbergstraße. „Oft schauen die Menschen rein, winken oder klopfen. In 25 Jahren hat man viele hier im Viertel kennengelernt“, sagt er. Doch damit ist jetzt Schluss: Seit Jahresbeginn hat Graf seine Praxis abgegeben und genießt seinen verdienten Ruhestand.

Dass der heute 66-Jährige überhaupt Physiotherapeut geworden ist, hat mit einem kleinen Leiden zu tun. Eigentlich ist Graf Diplom-Sportlehrer und Wasserballtrainer. „Ich hab in meiner Heimat Rumänien Sportwissenschaften studiert, das war notwendig, um Trainer zu werden“,erzählt er, „ich war Leistungssportler und habe Wasserball gespielt.“ Eine chronische Kieferhöhlenentzündung bremste den Kornwestheimer, als er 1982 nach Deutschland kam. Seinen Beruf als Trainer konnte er seitdem nicht mehr ausüben. „Deshalb stand ich quasi ohne Job da“, erzählt Harry Graf. Als er in seiner neuen Heimat Nürtingen im Kreis Esslingen zum Arbeitsamt ging, stellte ihm die Mitarbeiterin die Frage, die sein Leben nachhaltig prägen sollte: „Wollen sie nicht Krankengymnast werden?“

Anfangs noch ohne Trainingsgeräte und Hanteln

Graf sagte nach kurzem Überlegen ja. Nach seiner Ausbildung im pfälzischen Neustadt traf er eine zweite einschneidende Entscheidung. Weil es ihn zurück in die Region Stuttgart zog, bewarb er sich 1984 im hiesigen Kreiskrankenhaus und ging nach Kornwestheim. „Dort habe ich meine Frau Ines kennengelernt“, sagt Graf. 1987 übernahm er mit ihr die erste Praxis in der Lessingstraße. „Zu der Zeit war es wirklich noch Krankengymnastik. Hanteln oder Geräte durften wir damals gar nicht verwenden“, sagte der 66-Jährige.

Deshalb seien die Räume in der Hornbergstraße, die das Ehepaar 1996 anmietete, anfangs fast zu groß gewesen. Erst zwei Jahre später füllten sich die Therapieräume mit den Trainingsgeräten. Mit den Geräten und weiteren Behandlungsformen änderte sich auch der Beruf. „Das ging mit Fortbildungen einher, wodurch die Arbeit vielseitiger wurde. Statt Krankengymnast war man Physiotherapeut“, sagt Ines Graf.

In dem immer breiter werdenden Spektrum gefiel dem Paar die Unfallchirurgie am besten. „Umso stärker der Knochen gebrochen war, desto mehr war die Besserung zu sehen“, so Harry Graf. Besserung verschaffte ihm sein Beruf auch, als ihn 2003 ein Schicksalsschlag ereilte. „Mein 18-jähriger Sohn ist tödlich verunglückt. Die Arbeit war meine Therapie und hat mir darüber hinweggeholfen.“

Bewegungsschießen als Ausgleich zu Arbeit

Den Ausgleich zur Arbeit fand er wiederum im Sport. Seit Anfang der 1990er gehört seine Leidenschaft dem Bewegungsschießen. Seine rund 30-jährige Karriere brachte ihm zahlreiche Titel ein – darunter eine Welt- und zwei Europameisterschaften. „Es ist für mich mehr als nur Sport“, sagt Graf, „ich habe meine engen Freunde fast alle beim Schießen kennengelernt“, erzählt er. Deshalb prägt der Sport sein Leben bis heute. So sei es der normale Ablauf gewesen, dass das Ehepaar freitags nach Feierabend ins Auto gestiegen und zu Wettkämpfen in Deutschland und Europa gefahren sei. .

Dass sein letztes Arbeitsjahr so stark von der Corona-Pandemie geprägt war, habe ihm die Entscheidung aufzuhören leichter gemacht.. „Es war schon zeit- und kraftraubend“, erzählt Harry Graf, der seine Praxis zum Jahresbeginn an zwei junge Physiotherapeuten aus Oßweil übergab. „Es war nicht einfach, Nachfolger zu finden“, sagt Ines Graf, „Wir haben lange gesucht. Hoffentlich fühlen sie sich genauso wohl, wie wir das 25 Jahre getan haben.“