Abdelilah Bensdira (links) und Stefan Rüttler bereiten das Fahrzeug vor, das einen neuen Reifen bekommt. Foto:  

In der Kornwestheimer Fahrradwerkstatt können Flüchtlinge ein eigenes Fahrrad für einen kleinen Preis erwerben und bei der Reparatur helfen.

Kornwestheim - Abdelilah Bensdira wirft sich vier Fahrradreifen über die Schulter. Dann schlendert er zum Fenster der Flüchtlingsunterkunft. Einer der Reifen muss auf das Fahrrad passen, das sein Kollege Stefan Rüttler gerade repariert. Auf der anderen Seite des Fensters schraubt der bereits den alten Reifen vom Fahrzeug ab. Bensdira legt die Gummiringe auf den Fensterrahmen und beäugt einen nach dem anderen. Er hebt ihn hoch, schaut sich das Profil an, drückt prüfend den Gummimantel ein und schätzt ab, ob es von der Größe her passen könnte. Dann schiebt er einen durchs offene Fenster zu Stefan Rüttler in die Werkstatt. Der nimmt ihn dankend entgegen.

Abdelilah Bensdira hilft seit knapp einem Jahr ehrenamtlich in der Kornwestheimer Fahrradwerkstatt. „Ich bin auch zuhause ein Fahrradbastler“, sagt er. Um Vermutungen wegen seines Namens vorzubeugen: Bensdira ist kein Flüchtling. Er ist Berufsschullehrer und nutzt das Ehrenamt als Ausgleich zum Schreibtischjob. Gleichzeitig möchte er Gutes tun. „Mein Ziel ist es, Hilfe zu leisten“, sagt er, „und man lernt hier viel voneinander.“

Überschaubares Team

Der Kornwestheimer ist in der Fahrradwerkstatt Teil eines überschaubaren Teams, das sich im Laufe der Zeit um Zdzislaw Krajewski gebildet hat – der Urvater, wie er auch genannt wird. Er hat 2016 das Angebot ins Leben gerufen und damals noch aus einem Auto heraus gespendete Fahrräder an Flüchtlinge verteilt und repariert. So war die erste Fahrradwerkstatt für geflüchtete Menschen in Kornwestheim erschaffen.

Mittlerweile ist die Fahrradwerkstatt an der Flüchtlingsunterkunft an der Villeneuvestraße beheimatet. Während Abdelilah Bensdira und Stefan Rüttler werkeln, trudelt im Laufe des Nachmittags langsam Kundschaft ein. Einer der ersten ist Joel Diffo Gningawe. Er stellt sein Fahrrad vor der Werkstatt ab und schaut es besorgt an. „Nach zwei Tagen ist immer die Luft draußen“, sagt der junge, große Mann über sein Rad, das er vor drei Jahren bekommen hat. In seiner alten Heimat in Kamerun hatte er ein Motorrad, bis er vor sieben Jahren nach Deutschland geflüchtet ist. „Ohne Fahrrad geht gar nichts“, sagt er, „das ist für mich ganz wichtig.“ Er fährt damit zur Arbeit und macht Ausflüge nach Stuttgart. Öffentliche Verkehrsmittel sind für ihn keine Alternative. „Wenn ich fünf Minuten auf den Bus warten muss, bin ich in der Zeit mit meinem Fahrrad schon lange weg“, sagt er. Außerdem habe er oft Spätschicht und dann fahre kein Bus mehr nach Hause.

Veronika Kienzle hat die erste Fahrradwerkstatt aufgebaut

Vielen Geflüchteten geht es ähnlich wie Joel Diffo Gningawe. Das Fahrrad bedeutet für sie ein Stück Freiheit. Eine, die das schon seit Jahren weiß, ist Veronika Kienzle. Einigen wird sie bekannt sein als Stuttgarter OB-Kandidatin. Weniger bekannt ist, dass sie vor etlichen Jahren die erste Fahrradwerkstatt in Deutschland aufgebaut hat. Das war Anfang der 1990er-Jahre, als viele Flüchtlinge aus Bosnien und Kroatien gekommen waren. Damals leitete Kienzle das Flüchtlingsdorf Stuttgart-Botnang. Und schon damals waren Fahrräder unglaublich wichtig für die Geflüchteten. Beispiele kennt Kienzle viele. Sie erzählt von einer geflüchteten Frau, die Angst hatte, in Deutschland bei dichtem Verkehr und vielen Regeln aufs Rad zu steigen. „Sie hat gesagt: Wenn ich in Deutschland irgendwann einmal Fahrrad fahre, dann bin ich integriert“, sagt Kienzle. Das Fahrrad stehe bei Flüchtlingen nicht nur für Unabhängigkeit und Freiheit, sondern diene auch als Kommunikationsmöglichkeit, sagt Kienzle, die heute im Staatsministerium arbeitet. „Da unterhält man sich schnell darüber, welche Gangschaltung der andere hat und fragt, ob man sich gegenseitig helfen kann“, sagt sie. Bei der Reparatur helfen – darauf ist Joel Diffo Gningawe nicht vorbereitet. Er erklärt den Fahrraddoktoren, wie sich die Ehrenamtlichen gegenseitig in der Werkstatt nennen, was das Problem mit seinem Rad ist. Dann stellt er sich daneben und verlangt einen Schlauch. „Oft kommen Leute und geben uns einen Auftrag, weil sie es so gewöhnt sind“, erzählt Bensdira. „Dann müssen wir halt Anweisungen geben und sagen ‚Hilf mal‘.“

Das Helfen und das Miteinander sind der Kerngedanke einer Fahrradwerkstatt. Manche Kollegen arbeiten auch mit dem Trick, dass der Kunde am Ende weniger zahlen muss, wenn er fleißig mithilft. Grundsätzlich zahlen die Flüchtlinge sowieso keine Arbeitszeit, sondern nur das Material.

Symbolischer Preis

Wenn jemand ein Fahrrad bei der Werkstatt kauft, verlangt das Team einen symbolischen Preis dafür. Andrea Tröscher, die die Fahrradwerkstatt leitet und an vielen anderen Stellen in der Stadt tätig ist, zum Beispiel im Arbeitskreis Asyl, nennt den Grund dafür: „Wir berechnen einen kleinen Betrag, damit die Menschen es wertschätzen. Wenn sie denken, sie bekommen es sowieso geschenkt, werfen sie es eher ins Gebüsch, als wenn sie dafür bezahlt haben.“ Das Konzept scheint aufzugehen: Andrea Tröscher bekommt Nachrichten mit Herzchen aufs Handy, wenn sie mal wieder jemandem ein Fahrrad verkauft hat. „Sie wollen dann auch etwas zurückgeben und helfen mir beim Tragen oder bei einem Umzug.“

Andrea Tröscher kann nachempfinden, was ein Fahrrad für geflüchtete Menschen bedeutet. „Ich habe als Kind vier Jahre dafür gekämpft, ein Fahrrad zu kriegen“, sagt sie. „Als ich endlich eins hatte, habe ich das als große Freiheit erlebt.“ Als Freiheit, mit der aber auch Pflichten einhergegangen sind. Ihr Vater habe ihr als allererstes beigebracht, wie man das Rad aufpumpt und einen Reifen wechselt. Deshalb ist sie nun mit so viel Herzblut in der Fahrradwerkstatt dabei, hat die Ehrenamtlichen auf den Namen „Fahrraddoktor“ getauft und nennt die Geflüchteten „meine Flüchtlinge“.

Bald wird sich in der Fahrradwerkstatt etwas ändern. Zdzislaw Krajewski verlässt, was er einst aufgebaut hat. Er wird bald nach Kehl umziehen. „Wahrscheinlich bleibe ich dabei und mache in Kehl auch etwas in diese Richtung“, sagt er. In Kornwestheim wird er aber eine Lücke hinterlassen. „Mal sehen, wie es bei uns weitergeht“, sagt der Ehrenamtliche Stefan Rüttler und schiebt schon das nächste Fahrrad aus dem Keller in die Werkstatt.

Info

Mitmachen
 Die Fahrradwerkstatt ist stets auf der Suche nach ehrenamtlichen Helfern, die Spaß am Reparieren haben. Interessierte können sich bei Andrea Tröscher unter 0 17 81 44 83 32 melden.

AK Asyl
 Die Fahrradwerkstatt ist ein Angebot des Ökumenischen Arbeitskreises Asyl, der an der evangelischen Kirche angedockt ist. Seit 2017 helfen Ehrenamtliche mit handwerklichem Geschick oder einer technischen Ausbildung in der Kornwestheimer Villeneuvestraße dabei, alte und kaputte Fahrräder wieder fit zu machen.