40 Jahre Priester: Franz Nagler von der katholischen St.-Martinus-Gemeinde Foto: Peter Mann

Vor 40 Jahren ist Franz Nagler im Stuttgarter St.-Eberhard-Dom zum Priester geweiht worden.

Kornwestheim - Er gilt als jemand, der das tut, von dem er überzeugt ist – allen Widerständen zum Trotz. Die Gemeinde schätzt seine Gabe zuhören zu können. Seinen Blick hat er stets auf die Bedürftigen gerichtet – nicht nur in Kornwestheim, sondern auch bei Projekten beispielsweise in Argentinien und in Vietnam. Er ist uneitel und bescheiden. Den Zustand der katholischen Kirche schätzt er als kritisch ein, aber er habe es, so sagt Pfarrer Franz Nagler im Interview mit unserer Zeitung, nie bereut, den Priesterberuf ergriffen zu haben.

Herr Nagler, das Lexikon weist für Priester eine Reihe von Synonymen aus: Seelenhirte, Menschenfischer, Diener Gottes, Diener der Kirche. Was passt Ihrer Erfahrung nach am besten zum Beruf des Pfarrers?

Wegbegleiter der Menschen in einem kritischen und solidarischen Verhältnis – so würde ich den Beruf umschreiben.

Haben sich Ihre Erwartungen, die Sie vor 40 Jahren an den Beruf hatten, erfüllt?

Ich hatte keine direkte Erwartungen, ich habe mich auf den Beruf eingelassen. Ich habe damals keine Berufung verspürt, sondern es war ein allmähliches Werden hin zu diesem Beruf und auch in diesem Beruf. Aber ich wusste Jahr für Jahr: Es war die richtige Entscheidung.

Der Berufseinstieg ist bei Priestern mit einer Weihe verbunden. Macht das den Beruf zu etwas Besonderem?

Er mag früher etwas Besonderes gewesen sein, aber im Verständnis hat sich ein Wandel vollzogen. Die Taufe macht den Menschen zum Mitglied der Kirche, das ist die Basis. Die Weihe ist nur eine Zuordnung von bestimmten Aufgaben, die man als Pfarrer oder Priester hat.

Gleichwohl: Was haben Sie empfunden, als Sie die Weihe empfangen haben?

Sie müssen das vor dem Hintergrund der Zeit sehen. Es war damals die Zeit, als der Theologieprofessor Hans Küng abgesägt worden ist, als ihm die kirchliche Lehrbefugnis entzogen worden ist, weil er das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit kritisiert hat. Wir haben wahnsinnig viel diskutiert, wir haben einen kritischen Brief an den Bischof geschrieben – und wir haben die Weihe als eine Bestätigung unseres Weges gesehen, den wir engagiert eingeschlagen haben.

Aber haben Sie sich vor diesem Hintergrund nicht besonders schwergetan, sich einer Institution zu verpflichten, die aufs Bewährte setzt?

Das Gefühl hatten wir gar nicht, weil so viel in Bewegung war. Ich war während meines Studiums ein erstes Mal in Südamerika, in Kolumbien, und habe dort eine Kirche erlebt, die auf den Menschen konzentriert war, und in der ich einen großen Freiraum hatte. Die Gesetze der Kirche, die haben mich noch nie groß interessiert oder belastet.

Ich stelle mir das Priester-Dasein als einen sehr einsamen Beruf vor. Liege ich damit richtig?

Ja und nein. Einerseits ist man dauernd mit Menschen zusammen und hat kaum Zeit ohne Kontakte. In jeder Gemeinde entwickeln sich Freundschaften. Auf der anderen Seite kann man persönliche Freundschaften abseits vom kirchlichen Umfeld kaum pflegen. Es fehlt dafür einfach die Zeit. Ich kann am Wochenende nicht sagen, dass ich keinen Gottesdienst feiere, weil ich lieber Freunde besuchen will. Je älter man wird, umso stärker spürt man auch dieses Manko.

„Vor 24 Uhr ist bei mir selten Schluss.“

Wie sind denn Ihre Arbeitszeiten?

Vor 24 Uhr ist bei mir selten Schluss. Gerade in den Abendstunden habe ich Zeit zum Lesen.

Was gefällt Ihnen an diesem Beruf?

Eindeutig: Das ist die Auseinandersetzung mit den Inhalten der Botschaft Jesu, mit der Gesellschaft. Und es ist die ganze Breite von Begegnungen mit Menschen, von der Taufe bis zum Tod, von Teamgesprächen bis zu Unglücksfällen.

Die Botschaft Jesu, kennt man die nach 40 Jahren Auseinandersetzung mit der Bibel nicht in- und auswendig?

Nein, nein. Ich habe noch nie eine Predigt wiederholt. Der Text ist zwar immer der Gleiche, aber die Lebenssituation ist immer eine andere. Und man ändert sich ja auch selbst. Die Grundlage, auf der man sich einen Text erschließt, ist nicht identisch mit der, die es Jahre zuvor gegeben hat.

Wie hat sich die Rolle des Priesters in der Gesellschaft verändert?

Für mich persönlich hat sich nicht viel verändert, weil ich immer versucht habe, das zu leben, was ich denke. Insgesamt aber steht die Kirche an einem Punkt, an dem sie das Berufsbild des Priesters überdenken muss. Wer begleitet die Menschen? Wie setzen wir das subjektive Mitspracherecht eines jeden Getauften um? Wie können wir die Hierarchisierung abbauen? Im Moment verspüre ich nicht, dass diese Fragen angegangen werden.

Wer holt die katholische Kirche aus diesem Tief heraus?

Der Glaube ist ein ganz eigener Zugang zur Wirklichkeit, die Auseinandersetzung mit der Rätselhaftigkeit des Lebens. Da geht’s nicht ums Geldverdienen oder um einen Aufstieg auf der Karriereleiter. Von den Menschen, die den Glauben so verstehen, werden die Veränderungen ausgehen müssen. Sie werden nicht von der Kirchenführung angestoßen werden.

Der Priesterberuf ist eine seltsame Melange aus der Geschäftsführung einer Gemeinde und der Seelsorge am Menschen. Wie passt das zusammen?

Die Verwaltung nimmt in der Tat enorme Ausmaße an – gerade jetzt in der Corona-Zeit. Mich ärgert diese hohe Zahl an Verordnungen aus der Diözese wahnsinnig. Es ist verlorene Zeit, das alles durchzulesen. Warum wird es den Gemeinden nicht zugetraut, auf Grundlage der weltlichen Bestimmungen Schutzmaßnahmen zu treffen? Ich habe zum einen das Glück, dass ich hier in Kornwestheim nur eine Gemeinde habe, und ich habe ein sehr, sehr gutes Büro – mit Sekretärinnen und einer Kirchenpflegerin, die sehr selbstständig arbeiten und mit einem Kirchengemeinderat, der sich einsetzt. Deshalb kann ich mich intensiv den Inhalten widmen.

„Der liebe Gott steckt auch im Geld.“

Wäre eine Trennung Geschäftsführung – Seelsorge angebracht?

Ich weiß nicht, ob das eine Lösung wäre. Der liebe Gott steckt auch im Geld, und es wäre nicht gut, wenn die Priester keine Verbindung mehr zum Geschäftlichen und zur Verwaltung haben. Es ist auch wichtig, dass man sich immer wieder mit konkreten Problemen herumschlagen muss. Ansonsten kommt es zu einer vergeistigten Abhebung.

Sie hat es für einige Jahre ins Ausland gezogen. Warum haben Sie Deutschland verlassen?

Ich war zweimal in Südamerika – zunächst für eine Art Freiwilliges Soziales Jahr zu Beginn der Studienzeit. Der Aufenthalt war auch ein Grund dafür, warum ich Priester geworden bin. Die Pastoralarbeit der Kirche hat mich regelrecht gepackt, das war für mich eine starke Motivation, den Beruf zu ergreifen. Gleich nach der Vikar-Zeit durfte ich als Pfarrer nach Argentinien gehen.

Was haben Sie sich dort erhofft?

Die lateinamerikanischen Bischöfe haben beim zweiten Vatikanischen Konzil, bei dem es um die Erneuerung der Kirche ging, kaum etwas in die Waagschale geworfen. Aber es waren diejenigen, die die Beschlüsse nachher umgesetzt haben – im Gegensatz zu den Bischöfen in Europa. Es waren ungemein lebendige Gemeinden, die ich habe kennenlernen dürfen und in denen ich gearbeitet habe.

Hat es Sie irgendwann mal zu höheren Weihen gedrängt, zu anderen Aufgaben als denen eines Gemeindepfarrers?

Ganz sicher nicht. Das ist nicht meine Welt.

Wie schwer ist es, die theoretische und verkopfte Theologie in die Alltagswirklichkeit der Gläubigen zu übersetzen?

Das ist nicht einfach. Die Lieder, die wir singen, die Gebete, die wir sprechen, sind in einer Sprache, die eher lebensfremd ist. Natürlich suchen wir nach passenden Texten, aber die Vorgaben und Rituale machen es schwer. Es geht um die Frage, wie wir die Inhalte angemessen feiern, ohne ihre Tiefe zu verlieren, ohne dass es populistisch oder banal wird.

Priester ist nicht gerade ein Trendberuf. Können Sie trotzdem dazu raten?

Im Prinzip ja, aber der Beruf muss sich verändern. Die Priester müssen aus der Gemeinde heraus kommen. Die Priester müssen im Leben stehen, sie müssen Charisma und eine religiöse Ader haben, sie müssen Interesse an der theologischen Wissenschaft haben. Die rein universitäre Ausbildung und die Zeit im Priesterseminar kann nicht die Zukunft sein.

Damit würden Sie sich Ihren Berufsstand ja abschaffen.

Das stimmt, aber hat Jesus nicht gesagt: Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen.