Maike Gargula und ihr Sohn Frederick besuchen die SGA Kornwestheim seit Oktober einmal wöchentlich. Foto: Sophia Herzog

Um das Einfühlsamkeitsvermögen von Schülern zu fördern, verfolgt eine Einrichtung ein ungewöhnliches Konzept.

Kornwestheim - „Er steht alleine!“ Ein Raunen geht durch den Raum, als Baby Frederick sich hochzieht, die winzigen Zehen fest in den Boden gedrückt und beide Patschehändchen zur Stütze flach gegen die Wand gepresst. Frederick schaut über seine Schulter und grinst verschmitzt in Richtung seiner Mama, die neben ihm auf dem Boden hockt. Kurz schwankt er ein wenig, dann fängt er sich aber doch, schaut wieder Richtung Wand, und betrachtet für die nächsten zwei Minuten gebannt eine Schraube vor seinen Augen.

Es ist nicht das erste Mal, dass Frederick ohne die Hilfe seiner Mutter Maike Gargula steht – aber es ist das erste Mal, dass er es hier tut, in den Räumen der Sozialen Gruppenarbeit Kornwestheim an der Schillerschule, umgeben von zwei Pädagoginnen und fünf Schulkindern. Der Name des Programms, für das sich die Anwesenden hier einmal wöchentlich versammeln, mag zunächst etwas sonderbar klingen. „Babywatching“ nennt sich das Konzept, zu Deutsch: Das Beobachten von Babys. Entwickelt wurde der pädagogische Ansatz vom Münchner Bindungsforscher Professor Karl-Heinz Brisch, Leitender Oberarzt an der Kinderklinik der Ludwig-Maximilians-Universität. Fördern soll das Babywatching unter anderem Einfühlungsvermögen und Sensibilität der Kinder, Angst und Aggressionspotenzial sollen abgebaut werden.

Das vierte Mutter-Kind-Duo

Bei der Sozialen Gruppenarbeit Kornwestheim (SGA), die von der Evangelischen Jugendhilfe im Landkreis Ludwigsburg betrieben wird, ist das Babywatching ein Baustein des wöchentlichen Programms. „Zu uns kommen bis zu 18 Kinder im Grundschulalter, die es in der Schule meist nicht schaffen, sich richtig einzufinden“, erklärt Dorothee Kocher, Fachleitung der SGA. Beim gemeinsamen Mittagessen, der Spiel- und Hausaufgabenzeit sowie einem wechselnden Nachmittagsprogramm werden die Jungen und Mädchen, die im Schulalltag auffällig sind, von den Pädagoginnen und Pädagogen betreut. Vermittelt werden sie über das Jugendamt. Immer mittwochs um kurz nach 15 Uhr steht das Babywatching auf dem Plan, seit 2015 ist es Teil des SGA-Angebots. Frederick und Maike sind das vierte Mutter-Kind-Duo und seit Oktober dabei. Aktuell nehmen fünf Kinder der SGA am Babywatching teil.

Jedes der fünf Kinder hat bei der Vorbereitung für das Babywatching eine feste Aufgabe: Zwei Jungs schieben die Tische im Raum beiseite, ein Kind legt Matten für Mutter und Baby aus, ein weiteres holt Wasser für die Gäste. Wenn Mutter und Baby den Raum betreten, werden sie mit einem kurzen, eigens gedichteten Reim begrüßt.

Die passenden Worte finden

Dann geht es los: Die Kinder nehmen auf Stühlen Platz, die links und rechts der Matten aufgestellt wurden. Maike holt ein paar Spielsachen aus einem Beutel – heute eine Piraten-Handpuppe und einen bunten Ball – und hockt sich mit ihrem Säugling auf die Matte. Während Maike und Frederick spielen, tuscheln die Kinder untereinander, erzählen den beiden anwesenden Pädagoginnen, die mitschreiben, was sie beobachten. Frederick juckt das Publikum kaum: Nach seiner Kletteraktion an der Wand plumpst er erst auf seinen Po und beginnt dann, auf allen vieren den Raum zu erkunden – immer dem bunten Ball hinterher.

Dass die Kids während des Babywatchings ihre Beobachtungen an Grosch und ihre Kollegin weitergeben, soll Achtsamkeit trainieren, aber auch Einfühlungsvermögen. Dafür hakt Grosch auch nach: Als ein Kind flüstert, dass Frederick seine Socken ausgezogen hat, fragt sie, warum. „Weil es heute so warm ist“, weiß der Schüler. „Es geht darum, die passenden Worte zu finden, für das, was passiert“, erklärt Grosch.

Es wird viel reflektiert

Für rund 20 Minuten beobachten die Schüler das Baby und seine Mutter, dann signalisiert Grosch das Ende der Sitzung. „Wenn die Luft raus ist, mache ich auch mal früher Schluss.“ Wie zu Anfang hat auch jetzt jeder eine feste Rolle: Es gibt einen Abschlussgruß, die Matten werden weggeräumt. Dann verlassen Maike und Frederick den Raum, die Kinder versammeln sich um den Tisch. Jetzt fragt Grosch noch einmal genauer nach, „Wie ging es der Mama heute?“ etwa, oder „Was hat Frederick seit letzter Woche Neues gelernt?“ Die Kinder sollen so lernen, sich in andere hineinzuversetzen, Emotionen einzuordnen und in die richtigen Worte zu verpacken. Im Anschluss gibt Bianca Grosch auch an Maike weiter, was die Kinder beobachtet haben. „Ich finde es spannend, so zu reflektieren, was Frederick alles gelernt hat“, sagt Maike Gargula. „Man nimmt das Kind bewusst wahr.“

Vorfreude auf die nächste Woche

Bleibt die Frage: Funktioniert Babywatching? „Ja“, weiß Fachleiterin Dorothee Kocher. Die Kinder, die an dem Programm teilnehmen, könnten sich in der Schule meist besser äußern, seien sortierter und würden Konflikte anders lösen. Auch eine Begleitstudie des Babywatching-Erfinders Brisch mit Drei- bis Elfjährigen in Frankfurt bestätigte die Wirksamkeit.

Bei den Kindern der Sozialen Gruppenarbeit Kornwestheim ist unterdes die Luft raus. Nach der Gesprächsrunde mit Bianca Grosch und ihrer Kollegin freuen sie sich auf die Nachmittagsfreizeit. Vorher winken sie aber noch Frederick und seiner Mutter zum Abschied. „Die Kinder freuen sich immer auf das Babywatching“, weißt Grosch. Lange müssen sie nicht warten: Nächste Woche werden Frederick und Maike wieder zu Besuch sein.