Xavier Naidoo bei seinem umstrittenen Auftritt vor „Reichsbürgern“ in Berlin Foto: Geisler-Fotopress

Seit seinem bizarren Auftritt vor soge- nannten Reichsbürgern am Tag der Deutschen Einheit in Berlin erscheint der Sänger Xavier Naidoo in einem anderen als nur in einem religiösen Licht. Bedient der populäre Sohn Mannheims jetzt die rechte Szene?

Mannheim - Der 11. September 2001 lag wenige Tage zurück. Im Deutsch-Amerikanischen Institut in Heidelberg hatte Xavier Naidoo – damals bereits ein gefeierter Star – einen bemerkenswerten Auftritt. Zusammen mit dem Sänger Billy Davies saß er auf der Bühne, hielt eine Bibel in der Hand und sagte: „Ich lese jetzt aus Jesaja 48.“

Naidoo sang an diesem Abend keine einzige Zeile. Der damals 30-Jährige, den Musikkritiker als schönste und kraftvollste Soulstimme seit langem feierten, las aus der Bibel, dem Buch der Bücher, das er nach eigener Erzählung am Silvesterabend 1992 in die Hand nahm und das ihn seitdem begleitet. Der junge Mannheimer sprach über Gott und die Welt, wie er sie versteht. Er sprach von geheimnisvollen Bibelcodes, und er sagte absonderliche Dinge. Zum Beispiel: „Wenn Jesus auf dem elektrischen Stuhl gestorben wäre, würden wir uns dann einen elektrischen Stuhl um den Hals hängen?“ Das Fernsehen, Heiligenfiguren, selbst das Kreuz waren alles nur „Götzen“.

Die 300 Zuhörer, meist Studenten, lauschten andächtig. Auch als der charismatische Sänger auf den Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September zu sprechen kam. Er sei sicher, „dass wir uns in den letzten Tagen befinden“, sagte Naidoo. Davon zeugten die viel zu kräftigen Sonnenuntergänge. Wenn sich die Sonne rot verfärbe, sprach der Bibeltreue, nahe das Ende.

Hinterher stand Naidoo für ein seltenes Interview bereit. Schon nach wenigen Antworten war klar: Das eben war nicht irgendeine Jesus-Show. Naidoo klang hinter der Bühne nicht weniger seltsam. Er war weltab- und -zugewandt zugleich.

Das zeigt sich am besten in seiner Einstellung zu Mannheim. „Mannem“, wie Naidoo im schönsten Kurpfälzisch sagt, ist nicht nur seine Heimatstadt. „Mannem“ ist die Stadt schlechthin. Nämlich das neue Zion/Jerusalem, das der Apokalypse entgeht. Wer’s nicht glaubt, sollte unter Naidoos Anleitung die Bibel zur Hand nehmen; er stößt dort auf die verheißene Stadt der Planquadrate. „Sie ist im Viereck angelegt“, heißt ein früher Naidoo-Titel. Als gebürtiger „Mannemer“ zählt er demnach zu den Auserkorenen.

Umso größer sein Einsatz. Wie wohl kein zweiter deutscher Künstler engagiert sich Naidoo für seine Heimatstadt. Die Mannheimer profitierten davon – gerade auch sozial Schwache. Er gibt Benefizkonzerte und unterstützt den Mannheimer Verein „Aufwind“, der Kinderarmut bekämpft.

Bekannter ist Naidoos Engagement für die Popakademie Mannheim, für die anfangs auch Standorte außerhalb Mannheims im Gespräch waren. Auch sonst trug er zum positiven Imagewandel der Stadt bei. Jahrelang war der gefühlsstarke Chartstürmer ihr Aushängeschild – neudeutsch „Testimonial“. Das Stadtmarketing bediente sich seiner ausgiebig.

Naidoo und Mannheim – das ging schon fast in Richtung Symbiose, auch in Gestalt der ihn begleitenden „Söhne Mannheims“. Das apokalyptische Beiwerk störte da wenig. Im Gegenteil. Dass er den Mut hatte, seinen Glauben öffentlich zu bekennen, trug ihm Sympathien ein.

Vor allem aber passte er als Botschafter des multikulturellen Deutschland perfekt in die Zeit. Mesut Özil und Sami Khedira verkörperten die Weltoffenheit auf dem Fußballplatz, der dunkelhäutige „Mannemer“ mit seinen südafrikanisch-indisch-irisch-deutschen Wurzeln dasselbe auf der Bühne. Zu Beginn des neuen Jahrtausends sah Deutschland endlich auch nach außen hin bunt aus. „Dieser Weg wird kein leichter sein“, sangen die DFB-Kicker. Naidoos Hit begleitete das „Sommermärchen“ 2006. Gerald Asamoah, Fußball-DJ, spielte ihn rauf und runter.

Naidoo war stilprägend – musikalisch und darüber hinaus. Mit ihm konnte man sich schmücken. In Mannheim, bei der Nationalmannschaft und auch im Fernsehen. „Dass die ersten beiden Staffeln von „The Voice of Germany (2011 und 2012) so erfolgreich sind, wird ihm als Coach von vielen Kennern der Branche zum großen Teil zugerechnet“, heißt es auf seiner Homepage.

Umso größer die Ratlosigkeit jetzt, nach seinem Auftritt vor den sogenannten Reichsbürgern in Berlin am Tag der Deutschen Einheit – einen Tag nach seinem 43. Geburtstag. Hier las Naidoo nicht aus der Bibel vor, sondern er forderte „Freiheit für Deutschland“. Und wie damals in Heidelberg tauchte der 11. September auf. „Wer das als Wahrheit hingenommen hat, was da erzählt wurde, hat einen Schleier vor den Augen“, erklärte er vor dem „Reichsbürger“-Häuflein. Seitdem sehen Naidoo viele mit anderen Augen. Bisher galt er als religiös-eigenwillig, jetzt auch als politisch-verdächtig.

Wer sucht, wurde in dieser Richtung allerdings schon früher fündig. Die Behauptung, Deutschland sei kein freies Land, sondern noch immer besetzt, tat er den Zuschauern des „ARD-Morgenmagazins“ 2011 kund. Die Moderatoren lachten. Naidoo, schrieb der „Welt“-Autor Michael Pilz rückblickend, sei für „seine theologischen, politischen und intellektuellen Kurzschlüsse“ stets nachsichtig behandelt worden.

Diese Kurzschlüsse treten nicht selten in Kombination auf: „Ich überwache diesen Staat tagtäglich und offen gesprochen, ich finde er versagt kläglich“, heißt es in dem 2002 veröffentlichten Lied „Der Geist ist willig“. Und weiter: „Denn er versteht nicht die Sprache, die wir hier sprechen. Alle paar Minuten bricht er, frei nach Deiner Wahl, ein Versprechen, vertuscht seine Kriegsverbrechen und verlangt von seinen Bürgern zu blechen. Nur der Herr kann uns rächen.“

Von der Kunst- und Meinungsfreiheit ist das gedeckt. Doch diese Art „Systemkritik“ scheint bei Naidoo charakteristisch – eine Mischung aus persönlichem Urchristentum und der Denkrichtung des Libertarismus, der auf eine andere Art Urzustand abzielt – die weitgehende Abwesenheit staatlicher Strukturen. Von da ist es nicht weit, den Staat in Frage zu stellen. Erst recht, wenn ein neues Jerusalem am Horizont auftaucht.

Der „Zeit“-Autor Nils Markwardt sieht in dieser Haltung eher eine „organisierte Denkverweigerung“ als eine tatsächliche Systemkritik, die seiner Ansicht nach heute dringlicher wäre denn je.

Demzufolge ist es nicht so leicht, Naidoo als Verbreiter rechtsradikalen Gedankengutes abzustempeln oder ihn umgekehrt zu vereinnahmen, wie es die NPD versucht. Auf ihrer Homepage feiert sie Naidoo als jemanden, der „unbequeme Wahrheiten“ ausspricht und bekundet ihm „großen Respekt“. Naidoo selbst stellte nach Tagen der Funkstille klar: „Ich bin kein Rechtsradikaler.“ Dafür spricht zweifellos sein Engagement beim Projekt „Rock gegen Rechts“. In der SWR-Sendung „Zur Sache Baden-Württemberg“ rechtfertigte er seinen Auftritt vor den „Reichsbürgern“ damit, dass er auf die Menschen „mit Liebe“ zugehen wolle. Auch auf die NPD. Mit anderen Worten: Ein Jünger darf das.

Seiner Heimatstadt Mannheim reicht das als Erklärung nicht. Oberbürgermeister Rolf Kurz (SPD) distanzierte sich von dem bekannten Sohn Mannheims klar: „Wenn jemand an unsere Grundrechte, an unsere Verfassung die Axt anlegen will, gehe ich in die Diskussion“, sagte Kurz nach einem Telefonat mit Naidoo. Ein Sinneswandel hat offenbar nicht stattgefunden. Auf Anfrage sagt eine Sprecherin der Stadt, der Oberbürgermeister versuche in weiteren Gesprächen zu erreichen, dass Naidoo von seiner Haltung Abstand nehme. Eine offene Frage sei auch: „Wird die politische Bühne sein künftiges Betätigungsfeld sein?“

Das gemeinsame Projekt für einen Medienpark auf dem Gelände einer ehemaligen US-Kaserne liegt erstmal auf Eis. Die Popakademie setzte ihrerseits die Zusammenarbeit mit ihrem Förderer und Gastdozenten aus. Der Sänger Rolf Stahlhofen, der mit Naidoo einst bei den „Söhnen Mannheims“ auftrat, hält das für „armselig“: „Xavier hat mehr für die Stadt Mannheim getan als viele andere und wurde immer vorgeschickt, wenn es darum ging zu zeigen, wie tolerant die Stadt ist“, sagte er dem „Mannheimer Morgen“. Der verlorene Sohn schweigt. „Keine Interviews“ erklärt sein Management.

Eine große Bühne ist ihm weiterhin sicher. Der Fernsehsender „Vox“ teilte mit, er halte an einer neuen Staffel von Naidoos Musik-Show „Sing meinen Song – Das Tauschkonzert“ fest. Bald wird man ihn in festlichem Rahmen erleben: „Die Stars singen ihre liebsten Weihnachtslieder“, verkündet seine Homepage: „Freut euch auf ein Weihnachtskonzert – natürlich mit Xavier Naidoo.“