Wolfgang Schäuble (1942-2023) Foto: dpa/Michael Kappeler

Er war eine der prägenden Gestalten der bundesdeutschen Politik. Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble trat überzeugend ein für Freiheit und Demokratie. Nun ist er mit 81 Jahren gestorben.

Er war einmal die große Hoffnung der CDU nach Helmut Kohl. Er war Bundesminister in vier Kabinetten. Unter Kohl war er Kanzleramts- und Innenminister, unter Angela Merkel ebenfalls Innen- und dann Finanzminister. Er hat die Unionsfraktion geführt, er handelte den Einigungsvertrag mit der DDR aus, und ohne seine wirksame Rede im Bundestag wäre Bonn wohl immer noch der deutsche Regierungssitz. Am Dienstagabend ist Wolfgang Schäuble im Alter von 81 Jahren gestorben.

Ihm, dem Politiker im Rollstuhl, hatte Angela Merkel im Herbst 2009 das schwierige Amt des Bundesfinanzministers angetragen. Damals war er 67 Jahre alt. Und obwohl sein Verhältnis zu Merkel nicht unproblematisch war – er war einmal ihr Chef gewesen und hatte sie zur Generalsekretärin ernannt –, nahm er das Angebot an. Er fühlte sich in die Pflicht genommen – ein für ihn bezeichnender Begriff. Monate später sagte er in einem Interview: „Ich bin der Älteste im Kabinett. Ich verkörpere sozusagen das Langzeitgedächtnis der Republik. Da ich auch nichts mehr werden muss, habe ich ein größeres Maß an innerer Unabhängigkeit als andere.“

Lange im Schatten des ewigen Kanzlers

Das muss für ihn ein ungewohntes Gefühl gewesen sein, denn den größten Teil seines politischen Wirkens hatte er im Schatten Helmut Kohls zugebracht. Dem Kanzler und CDU-Vorsitzenden verdankte Schäuble seinen politischen Aufstieg, mit dem er selbst nicht gerechnet hatte. Er war ein für die personelle Ausstattung der Bundesrepublik nicht untypischer Bürokrat ohne größeren politischen Ehrgeiz. So konnte es jedenfalls erscheinen. Bezeichnenderweise kam der aus dem Südschwarzwald stammende Jurist, der 1965 in die CDU eingetreten war, aus der baden-württembergischen Steuerverwaltung. Für den Wahlkreis Offenburg wurde er 1972 erstmals in den Bundestag gewählt. Dort fiel er nicht weiter auf, allenfalls im Finanzausschuss lobte man seine Sachlichkeit und seinen Sachverstand.

Helmut Kohl, immer auf der Suche nach jungen Talenten, erkannte Schäubles Qualitäten und schlug ihn 1981 als Geschäftsführer der Unionsfraktion vor. Drei Jahre später ernannte er ihn zum Chef des Kanzleramtes und Minister für besondere Aufgaben. Eine bessere Wahl hätte Kohl kaum treffen können. Schäuble erwies sich als tüchtig und loyal. Man sagte ihm nach, er sei „verschwiegen wie ein Grab“, und der Kanzler vertraute ihm. Schäuble gelang es, das Kanzleramt zu einer effizient arbeitenden Machtzentrale auszubauen. Sehr viel später merkte er dazu an: „Kohl wusste, dass ich ihn nicht hintergehen würde. In meiner überheblichen Art habe ich manchmal gesagt: Ich mache es so, wie er entscheiden würde, wenn er es verstehen würde.“

Unterhändler der deutschen Einheit

Als Kohl 1989 sein Kabinett umbildete, fragte er Schäuble, ob er Innenminister werden wolle. Schäuble antwortete: „Wenn Sie mich so fragen, dann sage ich einfach ja.“ Die CDU wusste jetzt, dass sie es mit einem Politiker zu tun hatte, der es verstand, ohne großes Aufsehen seine Ziele zu erreichen. Als es 1990 um die deutsche Einheit ging, bestimmte Schäuble die Richtung der Gespräche. Als die DDR-Seite Bedenken äußerte, das politische und das Rechtssystem der Bundesrepublik komplett zu übernehmen, konterte Schäuble: „Wollen Sie, dass wir im Jahr 2000 noch hier sitzen?“

Mit der Rolle des Unterhändlers hatte er den Höhepunkt seines Ansehens und Einflusses erreicht. Doch im Herbst 1990 schoss ihn ein psychisch Verwirrter in seinem Heimatort Gengenbach nieder und verletzte ihn so schwer, dass er fortan auf den Rollstuhl angewiesen war. Schäuble sah in dem Attentat einen Unfall, ein „Naturereignis“ und verneinte stets, es habe ihn bitter gemacht. Bald nahm er die politischen Geschäfte wieder auf, wechselte aber in das Amt des Fraktionsvorsitzenden der Union. Obwohl er den Widerwillen Kohls gegen Berlin als Hauptstadt kannte, plädierte er in einer das Parlament beeindruckenden Rede dafür. Berlin war Bestandteil seiner Staatsidee.

Der „ewige Kronprinz“

Erstmals bekam das Vertrauensverhältnis zu Kohl einen Riss. Auch ärgerte es Schäuble, dass der Kanzler, dessen Autorität zu schwinden begann, in Angelegenheiten hineinredete, die er als seine eigenen ansah. Die Frage, wer 1998 als Kanzlerkandidat antreten solle, wuchs sich zum Konflikt aus, zumal Schäuble dem „Stern“ erklärt hatte, der Versuchung, nach der Kanzlerschaft zu greifen, würde er „wahrscheinlich nicht widerstehen können“. Zwar sah Kohl in Schäuble seinen Nachfolger, aber erst dann, wenn er ihn dazu aufforderte. In dieser Rolle des Kronprinzen fühlte sich Schäuble zunehmend unwohl. Der Leipziger Parteitag von 1997 brachte keine Klarheit, eher im Gegenteil. Als Schäuble nach seiner Rede mit Ovationen bedacht wurde, sagte der Kanzler hinterher im Fernsehen, Schäuble sei sein Nachfolger, nannte aber keinen Termin. Joschka Fischer spottete: „Der ewige Kanzler installiert den ewigen Kronprinzen“.

Doch nach sechzehn Jahren standen die Zeichen schlecht für Kohl und die Union. Im Nachhinein sagte Schäuble: „Auch mit einem Kandidaten Schäuble hätten wir die Wahl 1998 nicht gewonnen.“ Kohl übernahm die politische Verantwortung für die Niederlage und trat vom Parteivorsitz zurück. Die CDU ernannte ihn zum Ehrenvorsitzenden. Das machte es seinem Nachfolger Schäuble schwer, einen wirklichen Neubeginn einzuleiten.

Zerwürfnis mit Helmut Kohl

Das „System Kohl“ blieb weitgehend erhalten. Das änderte sich erst, als Kohl im Fernsehen eingestand, Spendengelder in beträchtlicher Höhe entgegengenommen zu haben, er aber die Namen der Geldgeber nicht nennen wollte. Eine tiefe Führungskrise der CDU war die Folge, denn auch Schäuble musste eingestehen, von dem Waffenhändler Schreiber 100 000 Mark entgegengenommen zu haben. Damit konnte er seiner Rolle als Aufklärer nicht mehr gerecht werden und erklärte deshalb seinen Rücktritt vom Partei- und Fraktionsvorsitz.

Zwischen Kohl und Schäuble kam es zu einem Zerwürfnis, das nie mehr geheilt wurde. Zugleich waren Schäubles Chancen ein für alle mal dahin, Kanzlerkandidat der Union zu werden. Gleichwohl blieb er unter der Vorsitzenden Angela Merkel „der erste Mann in der zweiten Reihe“, kam 2004 sogar als Bundespräsident ins Gespräch, aber Merkel und die FDP gaben Horst Köhler den Vorzug. Ein Jahr später wurde er Innenminister der großen Koalition. Er setzte konservative Akzente, was nicht überraschen konnte, denn schon in seinem 1994 erschienenen Buch „Und der Zukunft zugewandt“ hatte er die Rückbesinnung auf alte Werte gefordert.

Finanzminister in der Eurokrise

Im Herbst 2009 trug Merkel dem erfahrensten Politiker ihrer Partei das Finanzministerium an. Mitten in der Finanz- und Eurokrise setzte Schäuble auf Haushaltskonsolidierung und riskierte heftige Konflikte mit der FDP. Als er wegen der Folgen seiner Verletzung längere Zeit im Krankenhaus liegen musste, fragte man sich nicht nur im politischen Berlin, ob er noch einmal zurückkommen werde, ob er den Strapazen seines Amtes noch gewachsen sei. Aber er kam zurück und sah sich, wie es seine Art war, in die Pflicht genommen. Er wollte weiter anarbeiten gegen den Berg von Problemen, der sich im Lande und in Europa auftürmte.

Er tat dies vom Standpunkt eines Wertkonservativen aus. Auf einem Kongress der Union sagte er im Februar 2011, man dürfe die Lehren aus der Finanz- und Wirtschaftskrise nicht aus dem Blick verlieren: „Der Markt ist aus sich heraus nicht moralisch und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche ist des Teufels, weil sie falsche Maßstäbe setzt.“

„Freiheitliche Ordnungen sind immer in der Krise“

Er, von seiner Herkunft her Verwaltungsfachmann, war immer dafür eingetreten, dass der Mensch Grenzen und Regeln braucht. Das Amt des Bundestagspräsidenten, das er von 2017 bis 2021 ausübte, kam ihm entgegen, weil er von dieser Position aus in besonderer Weise politisch-moralischen Einfluss ausüben konnte.

Sein Satz „Eines unserer Probleme ist, dass wir zu wenig den Eindruck von Führung vermitteln,“ war gegen die Langzeit-Kanzlerin Angela Merkel gerichtet. Die liberale Gesellschaft, so sagte er, werde so gewaltig herausgefordert, wie es nicht vorherzusehen gewesen sei. Aber: „Freiheitliche Ordnungen sind immer in der Krise.“ Einen seiner wichtigsten Sätze sagte er 2019 vor Schülern im schwäbischen Schorndorf: „Das ist das Schöne an der Demokratie: Wir müssen nicht resignieren, wir können immer etwas ändern.“