Seit acht Jahren Tübinger Stadtoberhaupt: Boris Palmer Foto: dpa

Boris Palmer kann als grüner Oberbürgermeister beträchtliche Erfolge vorweisen – vieles spricht deshalb für seine Wiederwahl am Sonntag. Zuversicht verbreitet aber auch seine parteilose Herausforderin Beatrice Soltys. Sie spekuliert auf einen Anti-Palmer-Effekt.

Tübingen - Boris Palmer kommt direkt vom Pfarrertag – einem von rund 20.000 Terminen, die er in seiner bisher achtjährigen Amtszeit als Oberbürgermeister hinter sich gebracht hat. Beim Mittagessen im Ludwigs unweit der Neckarbrücke wird er darüber kein Wort verlieren. Dabei muss er gerade ziemlich gut gewesen sein.

Einige Hundert evangelische Geistliche hatten sich am Montagmorgen im Festsaal der Uni Tübingen versammelt, um den Vorträgen zweier Theologieprofessorinnen zu lauschen. Der Unterhaltungsfaktor hielt sich offenbar in Grenzen. Tags darauf wird Wolfgang Wagner, Leiter des evangelischen Begegnungszentrums im thailändischen Pattaya, also ein Mann mit Blick von außen, in seinem Internet-Blog schreiben: „An der Tübinger theologischen Fakultät hat man seit Melanchthon nicht viel dazugelernt. Der beste Beitrag ist das Grußwort des Tübinger Oberbürgermeisters. Boris Palmer spricht frei, witzig und kenntnisreich über Evangelische in Tübingen. Da können sich die Theologen ein Beispiel nehmen!“

Ein schönes Kompliment. Palmer wird sich bestätigt sehen, auch wenn sein Ego das nicht braucht. Der 42-Jährige, der regelmäßig zu Gast in Talkshows ist, weiß, dass er als Redner heraussticht. Sein Geheimnis? „Ich nehm’ mir drei, vier Punkte als Gerüst, der Rest wird improvisiert.“ Klingt simpel. Doch es ist halt nicht jedermann gegeben, Reden zu strukturieren, auf den Punkt zu kommen und die Freiräume dazwischen geistreich zu verfüllen. Palmer gelingt’s. Und das ohne große Vorbereitung.

Eigentlich ein unschätzbarer Vorteil. Gerade in einem Wahlkampf, wie Palmer ihn in diesen Wochen führt – oder führen muss. Denn seine Lust hält sich sichtlich in Grenzen („ich bin froh, wenn’s rum ist“) , was daran liegt, dass es aus Sicht des Tübinger Oberbürgermeisters keine echten Wahlkampfthemen gibt und seine Herausforderin, die von der CDU und der FDP unterstützte, parteilose Fellbacher Baubürgermeisterin Beatrice Soltys (48), „nichts Konkretes“ anzubieten habe.

Selbstverständlich setzt Palmer sich dem Prozedere aus, absolviert Wahlkampfautritte, klebt Plakate („Weiter mit neuen Ideen“) und verteilt Wahlkampfgeschenke in Form grüner Fahrradsattel-Überzüge („Als Fahrrad würde ich wieder Palmer wählen“). Seine Ausstrahlung ist jedoch eher die eines Machers, der in seinem Tatendrang gestört wird. Ständig muss er sich erklären. Dabei sollten die Erfolge, die er nach acht Jahren an der Spitze der 84 500-Einwohner-Stadt vorweisen kann, doch für sich sprechen: Verdreifachung der Gewerbesteuereinnahmen, schuldenfreier Haushalt, deutlich verringerter CO2-Ausstoß, höchste Kita-Quote in den alten Bundesländern, Bevölkerungswachstum, 5000 Arbeitsplätze. Man kann eigentlich gar nicht anders als ihn wählen.

Der studierte Mathematiker demonstriert dies scherzhaft im Stile eines wissenschaftlichen Beweises: „Tübingen erlebt einen ökologisch-sozialen Aufschwung. Wer glaubt, das hat mit mir zu tun, sollte mich wählen. Wer glaubt, das hat nichts mit mir zu tun, sollte mich auch wählen. Denn es ist unwahrscheinlich, dass jemand anders acht Jahre die Verwaltung so wenig bei der Arbeit stört und dabei solche Erfolge erzielt.“

Was sein Beweis nicht enthält, sind weiche Faktoren wie Stil und Emotionen. Angeblich wird darüber in Tübingen so viel diskutiert wie über seine Erfolgsbilanz. Der Oberbürgermeister trete gerne als Oberlehrer auf, heißt es. Er wolle die Bürger zu ihrem Glück zwingen – etwa in der Verkehrspolitik. Man stört sich daran, dass er Verkehrssünder fotografiert und das Vergehen auf Facebook postet. Man wundert sich auch, dass er ins Wahlkampfbüro seiner Kontrahentin Soltys platzt, weil sie ihr Auto auf einer Bushaltestelle abgestellt hat. Der zufällig anwesende Berichterstatter der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ notierte die Worte: „Was Sie da machen, Frau Soltys, das ist genau das, was bei uns in Tübingen überhaupt nicht geht.“ Seitdem fällt es Soltys noch leichter zu sagen: „Wenn Palmer abgewählt wird, dann wegen seiner Art.“ Sie selbst glaubt daran.

Es gebe aber auch inhaltliche Gründe für einen Wechsel, sagt die Kandidatin – angefangen bei Palmers „autofeindlicher Haltung“. Dass Tübingen so gut dastehe, habe im Übrigen viel mit dessen Vorgängerin, Brigitte Russ-Scherer (SPD), zu tun, die er 2006 mit 50,4 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang bezwang.

Palmer, der als einer der klügsten politischen Köpfe des Landes gilt, weiß um die diffuse Anti-Stimmung. Um seine Anhänger zu mobilisieren, kündigte er an, in einem zweiten Wahlgang nicht mehr antreten zu wollen, sollte das Ergebnis im ersten Wahlgang „weit entfernt von der Mehrheit“ liegen. Erklären kann er sich das Unbehagen allerdings nicht. Es sei denn als Nebenwirkung seiner direkten Art, Politik zu machen.

Davon will er keinesfalls lassen. Statt die Stadt zu repräsentieren, geht Palmer lieber in der Stadt spazieren, sucht das Gespräch, bisweilen die Konfrontation – auch via Facebook, wo seine Gemeinde auf 12 000 Nutzer angewachsen ist. „Ich nutze das, weil man viele junge Leute anders gar nicht mehr erreicht“, sagt er. Soltys geht das zu weit: „Ich halte nichts davon, dass ein Oberbürgermeister seine Privatmeinung permanent über Facebook kundtut.“ Bürgernähe muss nach Meinung der gebürtigen Mecklenburg-Vorpommerin anders aussehen.

Bestes Beispiel ist die inzwischen legendäre Apfelschorle-Story, mit der Palmer vor einigen Wochen bundesweit Schlagzeilen machte. Nach einer Radeltour wollte er auf der Terrasse des Nägelehauses bei Albstadt ein Apfelschorle und ein Vesper genießen. Drinnen war es voll, draußen schien die Sonne. Die Terrasse war aber bereits zu. Palmer bot an, das Schorle selbst nach draußen zu tragen, doch der Wirt lehnte ab („Sie kriaget nix. Fertig“) – worüber sich Palmer heftig erregte: „Wenn mr aufm Rathaus so schaffa dät wie hier, dann dätet ihr mit der Mistgabel naufganga.“ Auf Facebook legte er nach. Daraufhin wurde tagelang über die „Servicewüste“ Schwäbische Alb diskutiert. Schließlich bot Palmer dem Wirt an, einen Nachmittag auf dessen Terrasse zu kellnern – als Geste der Versöhnung.

Jetzt sitzt er im Ludwigs und nippt an einem großen Apfelschorle. Seine Worte sprudeln. Fragen, auch persönlicher Art, beantwortet er offen. Ja, sagt er, unter dem hohen Arbeitseinsatz – anfangs 100 Stunden pro Woche – habe sein Privatleben gelitten; seine vierjährige Tochter lebt heute bei der Mutter in Berlin. So oft wie möglich versuche er sie zu sehen. Auch gesundheitliche Folgen machen sich bemerkbar: Durch das viele Sitzen spürt er’s im Rücken.

Bei der Frage nach seinem Vater, dem im Jahr 2004 verstorbenen Remstal-Rebellen Helmut Palmer, stockt plötzlich sein Redefluss. „Klar vermisse ich ihn“, sagt der noch immer jungenhaft wirkende Dienstherr von 2100 Mitarbeitern leise. Der große Querkopf hat sein Leben geprägt.

Gespräche mit Palmer bleiben haften – auch weil sie über den Kirchturm der Tübinger Stiftskirche hinausreichen. Natürlich kommt Winfried Kretschmann darin vor, der grüne Ministerpräsident, mit dem ihn ein enges Vertrauensverhältnis verbindet, was sich darin zeigte, dass Kretschmann in den Schlichtungsgesprächen zu Stuttgart 21 auf ihn setzte. Gleichzeitig macht Palmer keinen Hehl daraus, dass er mit manchen Positionen der Grünen-Bundestagsfraktion Probleme hat – zuletzt, als führende Grüne Kretschmann wegen dessen Zustimmung zum Asylkompromiss angingen. Für Palmer ist das „Pippi-Langstrumpf-Politik nach dem Motto: Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.“

Bei sich selbst stellt er die gegenläufige Entwicklung fest: vom Idealisten zum Pragmatiker. Das geht so weit, dass bundesweite Medien über das grüne Idyll am Neckar spotten. Nach einem Stadtrundgang mit Palmer schrieb der Autor Moritz von Uslar im „Zeit“-Magazin: „Das grüne, so erfolgreiche Modell hat ein neues Biedermeier hervorgebracht, den Tübinger Öko-Spießer.“

Dazu passt ein Satz aus Palmers Wahlprogramm: „Zur Verschönerung des Stadtbilds und Verbesserung der Sauberkeit möchte ich die Abfallkörbe in der Altstadt durch schönere Gefäße mit mehr Fassungsvermögen ersetzen.“ Oft zitiert wird sein Satz: „Wenn Spießer heißt, dass ich nicht gut finde, wenn Bierflaschen kaputtgehen und man auf dem Spielplatz über Drogenspritzen stolpert, dann bin ich gerne Spießer.“ Der geradlinig-aufmüpfige Zug allerdings bleibt. Niemals werde er den Leuten nach dem Mund reden, sagt er. Spießer hin oder her. Der Vater schimmert durch. Auch hier.

Der Mittagstisch im Ludwigs ist beendet. „Krieget mir no was zum Trinka?“, ruft Palmer der Bedienung zu. „Auch auf der Terrasse?“ Sie grinst. „Klar doch, Herr Palmer!“ Die Nachwirkungen des verweigerten Apfelsaftes . . . Die Geschichte ist zu einem Running Gag geworden.

Palmer ist gut drauf. Von dem Mann hinter dem Tresen verabschiedet er sich mit dem Satz: „Kontakt zur heimischen Wirtschaft gesucht und die Mousse au Chocolat getestet!“ Beide lachen. In dem Moment kommt ein Gast auf ihn zu, ein pensionierter Pfarrer, Teilnehmer des Pfarrertreffens vom Vormittag. „Großartig“ sei Palmers Auftritt gewesen, sagt der ältere Herr überschwänglich. Palmer strahlt, als bestätige sich gerade nach einer Art Zufallsprinzip, wovon er selbst zutiefst überzeugt ist: Er kann es doch mit den Leut’.