„Die Würde des Menschen verteidigen“: Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl beim Jahresempfang der Protestanten im Neuen Schloss. Foto: Sellner

Wie steht es um das, was man Inklusion nennt, das selbstverständliche Dabeisein von Menschen mit Behinderung? Auf dem Jahresempfang der Protestanten in Stuttgart fiel das Fazit zwiespältig aus.

Dabei sein ist alles – aus dem Munde einer jungen Frau mit Behinderung klingt dieser ursprünglich olympische Gedanke ganz anders. Er klingt nach Sehnsucht, nach Hoffnung, nach Wunschvorstellung. Dabei sein, das heißt in ihrem Fall, dabei sein können. Zum Beispiel eine Bibliothek besuchen und nicht „immer nur in der Bude hängen“. Ihr großer Traum ist es, einmal auch in der Schleyerhalle dabei sein zu können. „Am liebsten bei einem Konzert der Toten Hosen“.

Die junge Frau ist Jeanette Germann. Sie lebt in der Bruderhausdiakonie Wendlingen und war am Dienstagabend Gast beim Jahresempfang der evangelischen Kirchen in Baden und Württemberg im Neuen Schloss. Dort saß sie auf dem Podium und diskutierte mit anderen Menschen mit Handicap, der Landesbehindertenbeauftragten Simone Fischer und Vertretern von Wissenschaft und Werkstätten über den Stand der Inklusion im Land. Das Motto des Abends lautete „Gemeinsam stark“; knapp 300 Gäste waren gekommen, um über Inklusion, Teilhabe und Nächstenliebe zu sprechen, eingestimmt von der inklusiven Brenz Band und dem Gebärdenchor der Paulinenpflege.

Bischof Gohl: „Wir alle sind Menschen mit Unterstützungsbedarf“

Jeanette Germann traf mit ihrem Dabei-Sein-Wollen den Kerngedanken von Inklusion. Viele Fortschritte seien in den vergangenen Jahren erzielt worden, erklärte Johannes Eurich vom diakoniewissenschaftlichen Institut der Uni Heidelberg. Vieles ist jedoch auch nicht erreicht – etwa im Bereich Arbeit. 6500 Unternehmen im Land beschäftigten aktuell keinen einzigen Menschen mit Behinderung, bemängelte Simone Fischer und verband diese Feststellung mit einem dringenden Appell an die Wirtschaft. Große Herausforderungen sieht auch der württembergische Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl: In einer Zeit, „in der kein Konsens mehr über den Wert des Lebens besteht“, hätten Kirchen und Politik die gemeinsame Verantwortung, die „unverlierbare Würde des Menschen neu ins Gespräch zu bringen“.

Mit Blick auf das Thema Behinderung betonte Gohl: „Menschen mit Unterstützungsbedarf sind wir alle. Aber bei manchen unter uns ist dieser Bedarf größer und führte in der Vergangenheit oft zu Ausgrenzung und Abhängigkeit.“ Dem müsse man begegnen. Die Landesbischöfin der badischen Landeskirche,Heike Springhart, sagte: „Es ist eine wichtige Aufgabe von Gesellschaft, Kirche und Politik, unsere Verschiedenheit und Verletzlichkeit anzuerkennen und allen Menschen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.“

Kretschmann würdigt Leistung der Kirchen im sozialen Bereich

Ministerpräsident Winfried Kretschmann stellte bei dem Empfang im Weißen Saal des Neuen Schlosses klar: „Bei der Inklusion geht es um die volle und barrierefreie gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.“ In der Praxis stoße man auf mentale Barrieren und bürokratische Hindernisse. Wie überall beim Bürokratieabbau gelte: „Wir brauchen mehr Ermöglichungskultur!“ Kretschmann würdigte die Leistung der Kirchen im sozialen Bereich: Die Kirchen sind in unserer Gesellschaft wichtige Impulsgeber, wenn es um Solidarität, Partizipation und Humanität geht. Seine Aufforderung: „Lassen Sie in Ihrem sozialen Engagement nicht nach. Das ist es, was die Gesellschaft am allermeisten braucht.“

Aras warnt: „Andere nicht aus den Augen verlieren“

Landtagspräsidentin Muhterem Aras sieht darüber hinaus die gesamte Bürgerschaft gefordert: „Ohne ein Mindestmaß an Nächstenliebe funktioniert kein Gemeinwesen, und erst recht keine Demokratie. Die Kirchen könnten das alleine nicht leisten. „Nächstenliebe muss aus der Zivilgesellschaft selbst kommen. Das gilt es politisch zu fördern. Gerade jetzt, im aktuellen Krisenmodus, wenn Gefahr droht, andere aus den Augen zu verlieren.“ Beim anschließenden Empfang im Marmorsaal wurden diese Themen vertieft. Jeanette Germann, die junge Frau mit Behinderung, konnte am Ende sagen: Sie war dabei!