Ziel von Terje Lange ist es, dass die Kinder ihre Grenzen kennenlernen. Foto: Fritsch

Das Kinder- und Jugendhaus in Stuttgart-Degerloch bietet Grundschülern soziales Kompetenztraining an. Dabei lernen die Kinder ihre Gefühle und Grenzen kennen – bis vor Wut auch mal die Federn fliegen ...

Degerloch - Fast zwei Dutzend Jungs kloppen auf eine Weichbodenmatte, brüllen und lassen ihrer Wut freien Lauf. Dann schnappen sie sich Kissen und schlagen einander, bis Federn durch den Raum fliegen. Obwohl zwei Erwachsene mit im Raum sind, greift niemand in das Geschehen ein. Denn die Grundschüler sollen genau das machen: ihre Wut kennenlernen.

Zweitklässler der Filderschule machen sich jede Woche auf den Weg ins Kinder- und Jugendhaus. Dort arbeiten sie mit dem Einrichtungsleiter Terje Lange und seinen Kollegen an ihrer sozialen Kompetenz – also an ihren Gefühlen. Dieses Mal geht es um Wut. „Wut ist kein negatives Gefühl, der negative Anteil daran ist Aggression“, erklärt Lange. Das Gefühl sei dafür da, Grenzen zu setzen und seine Ziele zu erreichen. Insgesamt thematisiert Lange fünf Gefühle im Laufe des Kompetenztrainings: Wut, Trauer, Angst, Freude und Scham. „Freude mache ich immer zum Schluss. Dabei sagen die Schüler ihren Kameraden, was sie an ihnen besonders gut finden“, sagt Lange.

Das Projekt wird von der Baden-Württemberg-Stiftung gefördert

Die Grundschüler sitzen in einem dunklen Raum um eine Kerze herum. Terje Lange hat einen großen Stock in der Hand, an dem ein paar Federn hängen. Die Situation erinnert an eine Indianergruppe, die am Lagerfeuer Pläne schmiedet. Immer wieder stützt sich einer der Jungen auf seine Hände und Füße und drückt sich dreimal mit seinen Armen nach unten und wieder nach oben. Lange muss immer wieder um Ruhe bitten. „Wer Quatsch macht, macht drei Liegestützen“, sagt er.

Das Kinder- und Jugendhaus hat vor einigen Jahren mit der Baden-Württemberg-Stiftung ein Projekt zum Thema Nachhaltigkeit gemacht. „Die sozialen Themen standen dabei aber immer im Vordergrund, deshalb wollten wir ein Projekt speziell dazu machen“, sagt Lange. So entstand im Jahr 2015 das soziale Kompetenztraining. Klassenweise kommen Schüler der Alb- und der Filderschule ins Kinder- und Jugendhaus, um in jeweils zehn Sitzungen an ihren Gefühlen zu arbeiten und ihre Grenzen kennenzulernen. Das Projekt wird über drei Jahre von der Baden-Württemberg-Stiftung gefördert.

Jungs und Mädchen machen die Übungen getrennt

Für die Zweitklässler stehen mehrere Übungen an. Gerade liegen sie auf dem Boden des dunklen Raums. Jeder hat eine Matte und liegt bequem auf dem Rücken. Sie stellen sich vor, dass sie auf einer Abenteuerreise sind. Sie fahren mit einem Boot in einen weit entfernten Urwald auf einer Insel, wo sie zum König der wilden Kerle ernannt werden. Das Monster, das auf dieser Insel lebt, macht schreckliche Geräusche. Sie füllen den ganzen Raum, als die Kinder sie nachmachen. Die Geschichte weckt ihre Gefühle.

Mit jeder neuen Schülergruppe macht Lange eine Einführung, danach arbeiten Jungen und Mädchen in getrennten Gruppen. „In dem Alter sind sie einfach in unterschiedlichen Entwicklungsphasen“, erklärt Lange. So gebe es bei den Jungs „mehr Action“, weil sie die Inhalte so besser verstehen würden, erklärt er.

„Stooooopp“, brüllen die Jungen durch den Raum. Das runde, längliche Kissen ist ihnen wohl doch zu nahe gekommen. Die Kinder stehen in einem großen Kreis; fast alle kichern und warten voller Vorfreude darauf, dass Terje Lange mit dem Kissen zu ihnen kommt. „Ich will auch mal“, ruft ein Junge. Lange schlägt zuerst vorsichtig auf die Brust der Grundschüler, dann nimmt er sich das Gesicht vor. Mit den Händen dürfen sich die Kinder nicht wehren, sie dürfen und sollen aber laut „Stopp“ sagen, wenn es ihnen zu viel wird. Das ist das Ziel dieser Übung. Die Kinder sollen ihre Grenzen kennenlernen und den anderen mitteilen: „Bis hierhin und nicht weiter.“

Das Konzept kommt bei Lehrern und Eltern gut an

Das soziale Kompetenztraining komme bei Kindern, Eltern und Lehrern gut an, berichtet Lange. Die Eltern werden vor den Kursen über das Angebot informiert, außerdem gibt es eine Zwischenauswertung mit den jeweiligen Lehrern. Nach den zehn Terminen gibt es eine Nachbesprechung mit den Eltern. „Bisher gab es extrem gutes Feedback von Eltern und Lehrern“, sagt Lange, „wir haben keine negativen Ergebnisse“. Und auch die Lehrer würden eine spürbare Veränderung bemerken und hätten einen besseren Zugang zu den Schülern, da sie nach dem Training ihre Grenzen besser kennen.

„Wut ist wie ein Lavamonster, ein glühendes Feuer und wie ein Vulkan“, sagen die Kinder. Terje Lange hat die Gefühle der Kinder derart wach gerüttelt, dass sie auch jenseits der Übungen anfangen, sich gegenseitig zu schlagen. Lange unterbricht sie mit einer Frage. Er will wissen, welche Möglichkeiten es gibt, Wut anders zu verarbeiten. „Man kann ganz tief durchatmen, daneben boxen oder den Konflikt mit Worten lösen“, sagt ein Schüler.