Pulse of Europe: Flagge zeigen auf dem Stuttgarter Schlossplatz Foto: Sellner

Die Stärken Europas herauszustellen – das ist das Anliegen der jungen Bürgerinitiative Pulse of Europe, die auch in Stuttgart immer stärker in Erscheinung tritt. Eine erfreuliche Erscheinung, findet Lokalchef Jan Sellner.

Stuttgart - Der Schlossplatz ist nicht der Hyde Park in London. Neuerdings gibt es aber auch hier so etwas wie eine Speakers’ Corner, jene berühmte Ecke der Londoner Grünanlage, in der seit einem Beschluss von 1872 jedermann ohne Anmeldung das Recht hat, Reden zu schwingen. So weit ist man in Stuttgart noch nicht, Kundgebungen jeder Art müssen weiterhin angemeldet werden, und doch ist etwas Neues entstanden: Jeden Sonntag zwischen 14 und 15 Uhr ergreifen Menschen auf dem Schlossplatz das von der Initiative Pulse of Europe angebotene „freie Mikrofon“, um über Europa zu sprechen.

Parteinahme für Europa

500 Zuhörer waren es am vergangenen Sonntag. Dieses Mal, bei der vierten Kundgebung von Pulse of Europe in Stuttgart, dürften es kaum weniger werden. Schön wäre es, es würden mehr. Es können nämlich gar nicht genügend Leute zusammenkommen, um für Europa Flagge zu zeigen – in Stuttgart und in anderen Städten des verunsicherten Kontinents. Auch nach der Holland-Wahl.

Pulse of Europe ist eine Bürgerinitiative am Puls der Zeit. Ihre Gründer, ein Ehepaar aus Frankfurt, demonstrieren buchstäblich, dass man auch als Einzelner etwas tun kann, um dem sich seit Donald Trump rasant ausbreitenden Nationalismus die Stirn zu bieten – zum Beispiel, wie im Hyde Park, auf eine Kiste steigen und das Wort für Europa ergreifen. In den kurzen Reden am Schlossplatz geht es nicht um Parteipolitik im üblichen Sinne. Was dort stattfindet, ist eine Parteinahme für die Vielfalt Europas und für den Erhalt der Europäischen Union als Friedensprojekt – getragen von persönlichen Erfahrungen und Überzeugungen.

Imprägniert gegen das Gift des Nationalismus

Es lohnt sich zuzuhören – zum Beispiel der Studentin aus Tübingen, Vertreterin der Generation Erasmus, die am vergangenen Sonntag davon sprach, dass sie es als großes Glück empfinde, sich in Europa grenzenlos bewegen zu können. Oder dem älteren Herrn aus Stuttgart, der als Kind die Schrecken des Krieges miterlebt hat, was ihn gegen das Gift des Nationalismus imprägnierte. Oder dem Ökonomen, der daran erinnert, wie stark gerade die Region Stuttgart mit ihren vielen exportorientierten Unternehmen von Europa profitiert, und der die Errungenschaften der EU herausstellt: gemeinsamer Markt, freier Verkehr von Waren und Dienstleistungen, gemeinsame Währung, Umweltstandards. Nicht zu vergessen: Fördermittel in zweistelliger Millionenhöhe für diese Region. Natürlich müsse man der EU auf den Puls fühlen und Dinge verbessern, sagt der Ökonom. Dazu müsse es sie aber geben. Und damit hat er sehr recht.

Gerne würde man Heine hören

Gerne würde man auf dem Schlossplatz noch andere Redner hören. Zum Beispiel den scharfzüngigen Theobald Tiger mit seinem Gedicht „Europa“: „Fahnen und Hymnen an allen Ecken. Europa? Europa soll doch verrecken! Und wenn alles der Pleite entgegentreibt, dass nur die Nation erhalten bleibt!“, heißt es darin. Hinter Theobald Tiger verbirgt sich Kurt Tucholsky. Leider lebt er schon lange nicht mehr, aber was er uns hinterlassen hat, ist von einer Zeitlosigkeit, dass einem das Blut in den Adern gefriert. Und weil wir schon bei politischen Propheten sind: Wie großartig wäre es, Heinrich Heine am „offenen Mikrofon“ zu haben. Heine, der früher als andere die zerstörerische Kraft des Nationalismus erkannte und in europäischer Dimension dachte. Weil man ihnen nicht mehr zuhören kann, sollte man sie (vor-)lesen. Rauf und runter.

jan.sellner@stzn.de