„Fentanyl-König“: Der 30-jährige Alaa Al­lawi (rechts) muss 30 Jahre in Haft. Foto: Courtesy of KSAT (Screenshot)

Die amerikanischen Drogenfahnder haben 2022 gut 379 Millionen potenziell tödliche Dosen an Fentanyl sichergestellt. Möglich machen es das Darknet, soziale Medien und eine weltweite Lieferkette.

Auf dem Höhepunkt seines Erfolgs lebte Alaa Allawi in einer vornehmen Villa vor den Toren der texanischen Ölmetropole Houston. Er fuhr einen weißen Maserati Gran Turismo, bestellte 500 Dollar teuren Champagner im VIP-Bereich angesagter Clubs wie andere ein Bier. Und er stattete dem Krypto-Unternehmer Kunal Kalra regelmäßig Besuche in Los Angeles ab. Dort rauchte er Zigarre und tauschte am Automaten Bitcoins in Bargeld um. Viel. So viel, dass Kalra das Geschäft für eine saftige Gebühr bald auch online abwickelte.

Keine schlechte Karriere für einen, der bei der amerikanischen Invasion seiner Heimat als 13-Jähriger in einem Vorort von Bagdad lebte. Der clevere Teenager lernte Englisch, diente sich als Übersetzer für die Besatzungstruppen an, verdiente Geld mit dem von ihm gegründeten Dating- und Chat-Dienst Iraqiaa.com und bot IT-Dienste an. Nach dem Abzug der US-Streitkräfte realisierte der talentierte Mann, dass auf ihn eine bessere Zukunft in den USA wartete. Allawi siedelte 2012 über und begann, sich in San Antonio eine neue Existenz aufzubauen.

Mit einer auf Ebay erworbenen Presse stellte er mehr als 850 000 Pillen her

Heute sitzt er im Norden des Bundesstaates New York in einer Gefängniszelle – und hat viel Zeit darüber nachzudenken, was in seinem Leben schiefgelaufen war. Details gehen aus den Akten des Gerichts hervor, das an Allawi alias „DopeBoy210“ 2019 ein Exempel statuiert hat. Er war der erste Angeklagte, dem wegen Handel mit der tödlichen Droge Fentanyl im Darknet und Missbrauch der Cyberwährung Bitcoin der Prozess gemacht wurde.

Die Beweislast war so erdrückend, dass der damals 30-jährige Allawi seine Verbrechen zugab, um mit einer Haftstrafe von 30 Jahren davonzukommen. Undercover-Agenten der Drogenfahnder von der DEA konnten aufzeigen, wie der „Fentanyl-König“ durch die Herstellung und den USA-weiten Handel mit dem Opiat mindestens 14 Millionen Dollar verdient hat. Mit einer auf Ebay erworbenen Presse stellte er mehr als 850 000 Pillen her, die er in 38 Bundesstaaten verkaufte.

Der 17-jährige Daniel Puerta wusste nicht, was er einnahm – und starb

Den entscheidenden Hinweis hatten die Fahnder von einem Informanten erhalten, der sie auf den Onlineshop „DopeBoy210“ in den finstersten Ecken des Internets aufmerksam machten. Nutzer brauchten dafür einen bestimmten Browser, der ihnen, wie sie dachten, anonymen Zugang zu der Plattform „Alpha Bay“ verschafften. Hier verkaufte Allawi gegen Bitcoins mehr als 80 Sorten gefälschter Tabletten. Statt Oxycontin, Xanax oder Aderall erhielten sie alle nur einen Wirkstoff: Fentanyl.

Für den 17-jährigen Daniel Puerta aus Long Beach im Bundesstaat Kalifornien erwies sich diese Praxis der Drogenhändler als tödlich. Auf Snapchat bestellte der Teenager eine blaue M30-Pille, die angeblich Oxycodon enthielt, das verschreibungspflichtige Schmerzmittel der Firma Purdue, das die Opiate-Krise der USA ausgelöst hatte. Das Unternehmen musste später sechs Milliarden Dollar an Strafe bezahlen, weil es die Gefahren des Präparats beim Marketing heruntergespielt hatte. Ärzte verteilten die Pillen wie Süßigkeiten – bei Rücken- und Gliederschmerzen, nach Zahneingriffen oder einfach nur bei Unruhezuständen. 2011 allein waren zwölf Milliarden Oxycodon-Pillen im legalen Umlauf. Daniel ging am Abend mit dem Hund spazieren, um die auf Snapchat bestellte Pille auf der Straße in Empfang zu nehmen. Statt Oxycodon enthielt sie Fentanyl, das 50-mal so stark ist. Das erklärt, warum zwei Drittel aller tödlichen Drogenüberdosen 2022 auf das Opiat Fentanyl zurückgehen. Die Gefahr ist umso größer, wenn die Konsumenten nichts von dem Inhaltsstoff wissen. Daniels Vater Jamie fand seinen Sohn bewusstlos in seinem Zimmer. Fünf Tage später stellten sie im Krankenhaus die lebenserhaltenden Maschinen ab. Es gab keine Rettung mehr für seinen Jungen.

Fentanyl hat Heroin und Oxycodon als Todesursache verdrängt

Puerta und 26 andere betroffene Familien verklagten Snapchat wegen Features, die den Dienst auch für Drogenhändler interessant machen. Dazu gehören das Verschwinden von Nachrichten kurze Zeit nach dem Empfang und der digitale Geheimtresor „My Eyes Only“. Das Unternehmen wehrt sich gegen die Vorwürfe mit dem Hinweis auf die Kooperation mit Polizei und Drogenfahndern. „Wir blockieren Suchen nach Begriffen, die mit Drogen zu tun haben“, teilt Snapchat mit. Parallel zu der Klage klärt Puerta mit seiner Organisation Victims of Illicit Drug Use über die Gefahren der falschen Pillendreher und die Rolle des Internets auf. Sein Dokumentarfilm „Dead on Arrival“ wird heute an Schulen überall in den USA gezeigt.

Wie dringend der Bedarf an Aufklärung ist, zeigen die Opferstatistiken. Laut der Gesundheitsbehörde CDC (Centers for Disease Control and Prevention) kamen in den zwölf Monaten bis Januar 2022 allein 107 000 Menschen an tödlichen Überdosen ums Leben. Fentanyl hat dabei Heroin und Oxycodon mit Abstand (67 Prozent) als Todesursache verdrängt. Die Zahl der jugendlichen Fentanyl-Opfer zwischen zehn und 19 Jahren verdreifachte sich zwischen 2019 und 2021. Die Krise hat ein solches Ausmaß angenommen, dass Experten sie zusammen mit der Coronapandemie als Erklärung für die zurückgehende Lebenserwartung der Amerikaner verantwortlich machen. Diese fiel um 2,7 Jahre auf durchschnittlich 76,4 Jahre; dem niedrigsten Stand seit 1996. Betroffen sind die ländlichen Gebiete ebenso wie die Großstädte. Fentanyl tötet die Reichen in den wohlhabenden Vororten so erbarmungslos wie die Armen der Innenstädte.

Die Vorprodukte kommen aus China

Der Staat steht dem Problem hilflos gegenüber. US-Präsident Biden kündigte in seiner Rede zur Lage der Nation vom Februar harte Strafen für Drogenhändler an. Im Senat brachten die Republikanerin Joni Ernst aus Iowa und der Demokrat Tim Kaine aus Virginia einen Gesetzentwurf ein, der unter anderen die Militärkooperation mit Mexiko gegen die Drogenkartelle verstärken soll.

Die haben längst entdeckt, dass es sehr viel lukrativer ist, Fentanyl zu produzieren, statt Drogen auf Feldern anzubauen. Zumal nur eine Handvoll Fentanyl benötigt wird, um Tausende Pillen herzustellen. Die Droge ist so potent, dass die Größe eines Zuckerpäckchens ausreichte, 500 Menschen zu töten. Sie kommt mit der Post, über die sozialen Medien und das Darknet. Und aus China, das die Vorprodukte exportiert. Da klingt es fast komisch, wenn etwa die Republikanerin Marjorie Taylor Greene vorschlägt, „endlich die mexikanischen Kartelle zu bombardieren, die täglich unsere Leute vergiften“.

„Ein Amazon für Drogen“

Fentanyl-König Allawi wäre in Texas sicher vor den Bombardements gewesen. Der junge Iraker lernte nach seiner Ankunft schnell, wie einfach sich in den USA mit Fentanyl Geld verdienen ließ. Während seines letzten regulären Jobs als IT-Experte für ein Unternehmen in Austin erzählte ihm ein Kollege von dem Basar auf „Alpha Bay“: „Ein Amazon für Drogen.“ Allawi überzeugte sich davon. „Mann, du kannst wirklich alles im Internet bestellen“, erzählte er später einem Freund. Die Rohstoffe zur Herstellung von Fentanyl orderte er aus China. Die erste manuelle Pillenpresse kaufte er auf Ebay für 600 Dollar. Für ein elektrisches Modell, das stündlich 21 600 Tabletten ausspuckte, zahlte er später 5000 Dollar. Die Lebensmittelfarben, die seine Pillen so unschuldig bunt aussehen ließen, fand er ebenfalls bei Ebay.

Dante Sorianello von der Drug Enforcement Administration nennt Allawi „einen Pionier“. Er habe den wachsenden Markt für Pillen früh erkannt. „Er war einer der Ersten, die das in großem Stil gemacht haben.“

Dafür büßt der „Fentanyl-König“ von „Alpha Bay“ jetzt mit einem Leben hinter Gittern. Im Gespräch mit einem Reporter zeigt er späte Einsicht. „Ich habe einen großen Fehler begangen.“ Zu spät für ihn, für den 17-jährigen Daniel und die vielen Opfer einer Krise, gegen die Amerika bisher kein Rezept gefunden hat.