Noch immer frisch, frech und frei: Claus Peymann, der legendäre Stuttgarter Theaterintendant Foto: ullstein bild

Er ist gekommen, um sich feiern zu lassen – und das Stuttgarter Publikum tut ihm den Gefallen: Im Stuttgarter Schauspielhaus hat Claus Peymann seine Arbeitsbiografie „Mord und Totschlag“ vorgestellt.

Stuttgart - Die einen gehen in die Kirche, die anderen ins Theater. Eine Messe mit erbaulichen Botschaften wird an beiden Orten gefeiert, zumindest an diesem Sonntagvormittag, wo auch im Stuttgarter Schauspielhaus ein Hochamt zur Ehre des Allmächtigen zelebriert wird. Anders als in der Kirche wird die Gemeinde jedoch nicht mit einer symbolischen Anwesenheit Gottes abgespeist. Das Theater hat mehr zu bieten, viel mehr: Gott ist da, er persönlich, wie er leibt und lebt, um sich ausdauernd feiern, bejubeln und anbeten zu lassen – und damit beim Gottesdienst nichts aus dem Ruder läuft, übernimmt Gott auch die Rolle des eifrigen Gottesdieners und huldigt sich selbst.

Und ja, das Huldigungs-Unternehmen läuft wie geschmiert: Am Ende des neunzigminütigen Auftritts badet Claus Peymann in Ovationen im Stehen, fast wie 1979, als er seine Stuttgarter Intendanz nach fünf Jahren aufgegeben und unter großem Politgetöse die Stadt verlassen hat. Zeitzeugen berichten, die Abschiedsorgie im Theater hätte sich damals über mehrere Stunden bis früh in den Morgen gezogen. So lange dauert der Beifall jetzt nicht, er endet pünktlich zum Sonntagsbraten. Aber dass ihm die Stuttgarter Gemeinde noch immer dankbar zu Füßen liegt, weil sie von diesem Heilsbringer zum Theater geführt, erweckt und erlöst worden ist, ließ sich an diesem Nostalgie-Vormittag nicht übersehen und überhören. Stuttgart bringt Peymann kultische Verehrung entgegen. Noch immer. Und weil das andernorts nicht der Fall ist, am wenigsten an seiner aktuellen Wirkungsstätte in Berlin, kehrt er auch gerne an den Eckensee zurück: Am 18. Februar 2018 wird er im Schauspielhaus „König Lear“ herausbringen, Shakespeares Alters- und Abschiedstragödie mit Martin Schwab in der Titelrolle.

Ein Kilo Ironie

Abschied und Alter rücken auch König Claus auf die Pelle. Im Juni wird er achtzig, kurz danach räumt er seinen Thron am Berliner Ensemble, den er seit 18 Jahren besetzt hielt. Dass die Berliner Feuilletons, die das traditionsreiche Haus am Schiffbauerdamm zum Theatermuseum verkommen sahen, erleichtert aufatmen, kratzt indes nicht im Geringsten am Selbstbewusstsein des Patriarchen. Es ist unerschütterlich – so unerschütterlich, unerschrocken und unbescheiden wie auch der Titel der Arbeitsbiografie, die Peymann jetzt auf der Bühne des Schauspielhauses vorgestellt hat: „Mord und Totschlag. Theater / Leben“ ist ein fünfhundert Seiten starker, im Berliner Alexander-Verlag erschienener Text- und Bildband, der natürlich mehr ist als nur ein nüchterner Arbeitsnachweis. Der Band schlittert haarscharf an einer Hagiografie, einer Heiligengeschichte aus dem Theater, vorbei.

Eben das, Idealisierung, Stilisierung und Verklärung, wäre unerträglich, würde Peymann nicht zu Sicherheitsmaßnahmen greifen und die Präsentation des gewichtigen Werks – 1094 Gramm – mit Ironie und Selbstironie flankieren. Auf der Bühne verwandelt sich der Buchtext in einen Stücktext und die Heiligenlegende in die Lebenskomödie eines, ja, doch, Größenwahnsinnigen, wobei er die Hauptrolle mit sich – wem sonst? – und die beiden Nebenrollen mit Hermann Beil und Jutta Ferbers besetzt. Seine Dramaturgen liefern die Stichworte, während Bilder und Filme im Hintergrund die dazugehörigen Dokumente herzeigen – und Peymann selbst steuert als Gott und Gottesdiener die Episoden, Anekdoten und Pointen bei. Schon der Auftakt der kurzweilig inszenierten Buchvorstellung gibt den Ton an. „Mord und Totschlag“, ruft Beil aus, und „Theater / Leben“ ruft Ferbers ergänzend hinterher – und der Zirkus mit dem 1937 in Bremen geborenen Clown kann beginnen, mit einem bezeichnenden Eintrag ins Klassenbuch von 1947: „Peymann rülpst – und schaut sich triumphierend um.“

Frech und frei war er schon als Schulbub, frech, frei und streitlustig hat er sich dann auch seinen Weg durch die deutsche Bühnenlandschaft gepflügt, anfangs als Regisseur, später – seit 1974, als ihn Hans Peter Doll in größter Not als Theaterretter nach Stuttgart holte – auch als Intendant. Diese Stationen – von Frankfurt über Berlin nach Stuttgart, von Bochum über Wien wieder zurück nach Berlin – schreitet Peymann in seiner Manege ab, mit einer ungetrübten, von ihm kunstvoll gockelhaft ausgestellten Selbstverliebtheit, die vor nichts Halt macht. Als auf der Leinwand ein Bild aus alten Zeiten erscheint, dreht er sich auf seinem Stuhl um und winkt belustigt dem Selbstbildnis zu: Auf dem Haupt trägt er eine Krone, die Königskrone „Richards III.“ von Shakespeares Gnaden, einer Inszenierung, mit der er an der Burg einen von zahllosen Erfolgen feierte. Und natürlich lässt er in der Rückschau auch jene Dichter vorpeiparadieren, die den Weg Seiner Majestät schon immer ergebenst begleitet haben. Turrini, Ransmayr, Handke und vor allem Thomas Bernhard: Den tyrannischen „Theatermacher“ des österreichischen Edelquerulanten, auch seinen pedantischen „Weltverbesserer“ hat wohl niemand stimmiger verkörpert als der notorische Theaterverbesserer Peymann selbst.

Der Oberbürgermeister und sein Revolver

Zu den Künstlern, die ihn beeinflusst haben, gehört auch einer, den heute kaum jemand mehr kennt: Hanns Henny Jahnn, Schriftsteller, Orgelbauer, Musikwissenschaftler. Ihm begegnete Peymann während seiner Hamburger Zeit in den späten fünfziger Jahren – und als er diese Begegnung schildert, in Jahnns Arbeitsraum mit Orgelpfeife und Partituren, unterläuft ihm auf der Bühne ein Fauxpas. „Buxtehure“, sagt Peymann und meint Buxtehude, den Komponisten – und seine diebische Freude ist so groß, dass er den Versprecher wiederholt und ihn auf die „Stuttgarter Aufregung“ schiebt, die ihn an diesem Vormittag ergriffen hat. Und als er dann auf Jahnns Rede gegen den Atomtod auf dem Hamburger Marktplatz zu sprechen kommt, begeht er auch eine Stuttgarter Todsünde: „Stellen Sie sich vor, da waren hunderttausend Menschen! Wenn es so viele beim Stuttgarter Bahnhof gewesen wären“ – und prompt regt sich der erste und einzige Widerspruch während dieser in Watte gepackten Matinee: Peymanns Schalk und Größenwahn genießt das Publikum, diese Fehleinschätzung nicht: „Es waren hunderttausend“, ruft ihm das Parkett entgegen.

Und das Parkett muss es wissen. Die Mehrheit der Menschen, die sich zur Peymann-Feier versammelt haben, protestierte vor sechs, sieben Jahren gegen das Milliardenprojekt Stuttgarter 21 – in einem kritischen, rebellischen Geist, der ihnen einst just von Peymanns aufklärerischem Theater eingeimpft wurde. Er sei „in Stuttgart – bis hin zum Berufsverbot – in politische Auseinandersetzungen verstrickt“ gewesen und habe sich im „Nahkampf in Sachen Stammheim und Filbinger“ aufgerieben, so Peymann. Einen Politiker freilich nimmt er aus dem Nahkampf aus: Manfred Rommel, den er verehrte und dessen unaufgeregtes Wesen er in eine schlagende Anekdote packt. In den Hochzeiten des Terrorismus habe er den Oberbürgermeister nachts im Schlosspark getroffen, allein, ohne Begleitschutz. Ob er keine Angst vor einer Entführung habe, wollte Peymann von Rommel wissen. Und was tat der OB? Er zog seinen Tabaksbeutel und aus dem Tabaksbeutel einen Damenrevolver heraus. „Da wusste ich wieder, dass er der Sohn des Generalfeldmarschalls war.“

Diese Geschichte lässt sich in „Mord und Totschlag“ nicht nachlesen. Claus Peymann hat sie für sein Stuttgarter Heimspiel in die Show eingebaut. Noch nie war Größenwahnsinn so sympathisch wie an diesem sonnigen Gottesmorgen.