Gerade haben sich die Deutschen von der Griechenland-Krise erholt, da finden sie sich vor der größten Herausforderung seit der Wiedervereinigung wieder. In loser Folge beleuchten wir, wie Deutschland und der Südwesten den Ansturm der Flüchtlinge bisher bewältigt haben.  

Stuttgart - Wie Wolkenkratzer ragen die Säulen aus der bundesdeutschen Statistik heraus: 476 649 Menschen haben 2015 in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Schon in der ersten Hälfte dieses Jahres wurde die Zahl wieder geknackt. Was es bedeutet, wenn die Statistik plötzlich in Extremwerte ausschlägt – das begannen viele Deutschen vor genau einem Jahr zu realisieren.

Im Frühling 2015 hielt noch eine ganz andere Krise die Republik in Atem: Schlipslose griechische Politiker sorgten für Tumulte auf dem Brüsseler Parkett und endlose Schlangen an hellenischen Bankautomaten. EU-Gipfel jagte Krisensitzung, Banken, Bonitäten und die Jugendarbeitslosigkeit bereiteten Sorgen. Die Bilder vom grausamen syrischen Bürgerkrieg flimmerten da schon seit mehr als vier Jahren über die bundesdeutschen Bildschirme – eindrücklich zwar, aber doch unendlich weit weg.

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Tragödie auf dem europäischen Kontinent

Fast unbemerkt verschaffte sich diese weitaus größere Tragödie Zugang zum europäischen Kontinent: Zuerst noch von Schleusern gelotst, dann immer öfter auf eigene Faust, begannen Flüchtlinge über den Balkan zu marschieren. Zu Fuß, entlang von Bahnübergängen und Flüssen, über grüne unbewachte Grenzen hinweg. Sie hinterließen Tipps im Internet, für die, die nachfolgen sollten. Eine Route gen Westeuropa materialisierte sich, ein Pfad der Hoffnung, ausgetreten von vielen Tausend Füßen. Die einzige Angst war, zu früh aufgegriffen zu werden, in Bulgarien oder Ungarn etwa, und dort seinen Fingerabdruck hinterlassen zu müssen. Dann nämlich war der Weg nach Westeuropa versperrt: Selbst wenn Deutschland oder Schweden später erreicht wurden – die einmal Registrierten durften nicht bleiben, so sah es das Dublin-Verfahren vor.

Dann kam der 25. August und mit ihm ein bedeutungsschwerer Behördenvermerk: Das Bundesamt für Migration legte fest, dass für Flüchtlinge aus Syrien das Dublin-Verfahren ausgesetzt wird. Warum das Amt diesen internen Vermerk über den
Online-Nachrichtendienst Twitter verbreitete – niemand kann es sagen. Auf der Balkanroute und jenseits der Ägäis sorgte er jedenfalls für helle Begeisterung. Wer es nun schaffte, sich nach Deutschland durchzuschlagen, irgendwie, der durfte bleiben. Dankesbotschaften an „Mama Merkel“ kursierten in der arabischen Welt. Und der Verkehrsfluss auf der Balkanroute schwoll an.

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Als das Grenzsystem zusammenbrach

Am 4. September schließlich brach das Grenzsystem der EU endgültig zusammen: Tausende Flüchtlinge strandeten in Budapest – völlig allein gelassen von den ungarischen Behörden. Sie machten sich zu Fuß auf den Weg zur österreichischen Grenze, einige brachen aus ungarischen Auffanglagern aus, und schlossen sich dem Zug an. Die Bilder Tausender Menschen, die zu Fuß über eine zweispurige ungarische Schnellstraße wanderten, gingen um die Welt. Und wer sie sah, der spürte ihre Bedeutung. Auch Angela Merkel begriff, dass man diese entschlossen wandernden Menschen nicht aufhalten konnte. Die Kanzlerin versprach, sie aufzunehmen. Zug um Zug rollte gen München – und bald gingen neue, ungeahnte Bilder um die Welt: von klatschenden Deutschen, die überrascht lächelnde Flüchtlinge in Empfang nahmen.

Das Rad der Geschichte hat sich seitdem freilich weitergedreht: Die Balkanroute liegt weitgehend verwaist, Grenzschließungen und das Abkommen mit der Türkei machen es möglich. Die Kölner Silvesternacht nährte Zweifel und Ängste – ebenso wie die Anschläge von Würzburg und Ansbach. Die Alternative für Deutschland (AfD) wandelte sich von der eurokritischen zur rechtspopulistischen Partei – und sitzt in mittlerweile acht Landtagen. Die ganze historische Bedeutung dieser Tage, Wochen und Monate wird Deutschland aber wohl erst in vielen Jahren begreifen können.

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