Angezogen vom Wirtschaftswunder, sind sie von den 50er Jahren an nach

Angezogen vom Wirtschaftswunder, sind sie von den 50er Jahren an nach Deutschland gekommen. Doch längst nicht alle Gastarbeiter zog es wieder zurück in die Heimat. Sie wurden in der Region sesshaft - und sind nun im Rentenalter. Jeder vierte Stuttgarter über 60 hat heute seine Wurzeln im Ausland.

Von Sven Hahn

STUTTGART. Bereits jetzt leben in der Landeshauptstadt mehr als 37 000 Menschen mit Migrationshintergrund, die 60 Jahre und älter sind. Ana Kudic ist eine von ihnen. Sie kam 1967 aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Stuttgart. Damals war sie 23 und hat studiert. "Eigentlich wollte ich nur ein wenig Geld hinzuverdienen", sagt sie. Doch wie viele andere ist sie am Ende in Deutschland geblieben. Heute ist Ana Kudic 65 Jahre alt und lebt im Haus Adam Müller-Guttenbrunn im Stuttgarter Stadtteil Rot.

Ana Kudic wollte eigentlich immer nach Kroatien zurückkehren. Aber es ist dann alles anders gekommen. Sie hat in Deutschland einen Jugoslawen geheiratet und 1969 einen Sohn bekommen. "Dann hat es sich einfach so ergeben, dass ich hiergeblieben bin", sagt sie.

Vor drei Jahren ist sie ins Pflegeheim gezogen. Körperlich ist die 65-jährige zwar immer noch fit, aber da sie teilweise verwirrt ist, war das Heim die einzige Möglichkeit. "Ich fühle mich hier sehr wohl", sagt sie. Mit den anderen Bewohnern verträgt sich Ana Kudic gut. Auch wenn die anderen Bewohner meistens nur von ihren Krankheiten erzählen. "Darüber spreche ich nicht so gerne", erzählt sie.

Ana Kudic kann im Heim wohlbehütet alt werden. Doch dies ist keineswegs die Regel für Menschen, die einst aus dem Ausland nach Deutschland kamen. Um die Probleme, die das Altern in der neuen Heimat mit sich bringt, weiß Professor Philip Anderson. Er ist Migrationsforscher an der Hochschule in Regensburg. Während sich Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien in Frankreich oder Großbritannien als Briten oder Franzosen fühlten, sei dieses Gefühl der Verbundenheit hierzulande nicht so ausgeprägt. "Daher findet oft keine Auseinandersetzung mit der letzten Lebensphase in Deutschland statt", sagt Philip Anderson.

Dazu kommen häufig weitere Probleme. Die alte Generation ist oft noch von der Mentalität ihrer Heimat geprägt, während die Kinder sich deutschen Vorstellungen angenähert haben. Es kann passieren, dass die Eltern fest davon ausgehen, von ihren Kindern gepflegt zu werden. Die Kinder sind aber verheiratet, haben eine eigene Familie und sind beide berufstätig. Die Kinder plagt das schlechte Gewissen, den Vater ins Altenheim geben zu müssen, Angehörige werfen ihnen vor, die Familie verraten zu haben.

Im Altenheim warten dann ganz neue Herausforderungen, sowohl auf die ausländischen Bewohner als auch auf das Pflegepersonal. Wie reagiert ein Mann aus der Türkei, wenn ihn eine junge deutsche Pflegerin auf einmal waschen und anziehen soll? Wie reagieren die deutschen Senioren auf ihre ausländischen Mitbewohner?

Gute Antworten auf all diese Fragen versucht man seit 2005 im Altenheim von Ana Kudic zu finden. Das Haus Adam Müller-Guttenbrunn wird von der Caritas betrieben. 47 Prozent der Anwohner in Rot kommen ursprünglich nicht aus Deutschland. Das schlägt sich auch im Altenheim nieder. Die Hälfte aller Mitarbeiter und ein Drittel der Bewohner sind Migranten.

Der Zeitdruck ist allgegenwärtig in der Altenpflege, umso schwerer wiegen neue Aufgaben, die zusätzlich Zeit kosten: Pflege, die Rücksicht nimmt auf die Kultur, in der die Bewohner aufgewachsen sind. Für Joachim Treiber, Heimleiter des Hauses in Rot, ist das Wissen über die Herkunft seiner Bewohner der Schlüssel, um deren Bedürfnissen so weit wie möglich gerecht werden zu können. "Wir können einen muslimischen Bewohner nicht fünfmal täglich waschen", sagt Joachim Treiber, "aber wir können darauf achten, dass er nicht mit der rechten Hand am Unterleib gewaschen wird."

Die Sprache stellt oft ein weiteres Problem dar, selbst wenn Menschen im Laufe der Jahre gut Deutsch gelernt haben. "Bei Demenz fallen viele wieder in ihre Muttersprache zurück", sagt der Heimleiter. "Unsere ausländischen Mitarbeiter helfen uns dabei als Dolmetscher."

Nicht nur das Personal zieht in Rot die Einwanderer zurate. Unter den Bewohnern spielen Zuwanderer oft die Rolle der Streitschlichter. Kommt es zu Anfeindungen gegen ausländische Senioren im Heim, nutzen die Mitarbeiter von Joachim Treiber gezielt die Hilfe aus der Gruppe von deutschen Vertriebenen. "Die können oft vermitteln, da sie Deutsche sind, aber früher selbst Einwanderer waren."

In der Fremde zu sterben ist für viele Migranten nach wie vor undenkbar, doch selten haben sie Familie in der Heimat oder dort andere nahe Bezugspersonen. Seit 1986 kann man sich daher in Stuttgart auf islamische Weise beerdigen lassen. "Wir versuchen, so gut es geht, auf die Wünsche der Menschen einzugehen", sagt Bruno Plesch vom Friedhofsamt. Dabei werden die Toten auf der rechten Seite liegend mit Blick Richtung Mekka beerdigt. Insgesamt gab es in Stuttgart im vergangenen Jahr rund 5200 Beerdigungen, davon waren nur 34 muslimischer Art - bei 50 000 in Stuttgart lebenden Muslimen überraschend wenig.

Hükmü Adibes, der in seinem Spezialreisebüro in Stuttgart Überführungen von Leichnamen in die Türkei anbietet, weiß, warum. "Bei einem Moslem muss das Grab für die Ewigkeit sein", sagt er. "Viele Türken haben Angst, dass das Grab auf einem deutschen Friedhof nach zehn Jahren aufgelöst wird."