Was vom Kriege übrigblieb. Von dem einstigen Krankenhauskomplex in Slowjansk stehen nur noch Ruinen. Foto: Krohn

Slowjansk war einst die Hochburg der prorussischen Rebellen in der Ukraine. Sie sind vertrieben worden, doch das Leiden der Menschen ist damit nicht beendet.

Slowjansk - In Slowjansk ist vom Krieg nichts zu sehen. Keine Bombenkrater im Zentrum, keine zerstörten Häuser, nicht einmal Einschusslöcher in den Fassaden. Das ist erstaunlich, war die Stadt im ostukrainischen Donbass über Wochen doch die Hochburg der prorussischen Rebellen. Slowjansk ist nach schweren Kämpfen von ukrainischen Truppen zurückerobert worden, hieß es am 5. Juli 2014 triumphierend aus dem Verteidigungsministerium in Kiew. Doch wieso sind von den Gräueln von damals heute keine Spuren mehr zu finden? War alles nicht so schlimm? Womöglich nur ukrainische Propaganda?

Wer nach den Schäden des Krieges in Slowjansk sucht, darf sich nicht auf den ersten Augenschein verlassen. Weder die Stadt noch die Menschen geben ihre Geschichten leichtfertig preis. Wer aber sucht und nachfragt, sieht die unglaubliche Zerstörung und erkennt, welche tiefen Verletzungen die Bevölkerung tatsächlich davongetragen haben.

Die Stadt der Ruinen

Am Rand der Stadt, nur wenige Autominuten vom Zentrum entfernt, befindet sich ein großer Krankenhauskomplex. Besser gesagt: er befand sich dort. Vitalij biegt von der frisch geteerten Hauptstraße ab und steuert seinen Minibus über einen notdürftig ausgebesserten Fahrweg. „Das dort oben war das Kulturhaus“, sagt er und zeigt mit dem Finger auf eine Anhöhe. Im Morgenlicht ist eine zerbombte Ruine zu erkennen. Noch ein paar Hundert Meter, dann lenkt er den Wagen an den Straßenrand und steigt aus. „Bitte immer auf den Wegen bleiben, nicht durch das Gras laufen“, warnt er vor Blindgängern und Minen, die noch auf dem Gelände liegen könnten.

Der bullige Mann überlegt kurz, wo er beginnen soll. Dann hebt er an und erzählt mit seiner tiefen, beruhigenden Bassstimme von den Wochen im Frühsommer vor zwei Jahren, als der Krieg über Slowjansk hereingebrochen war. „Die prorussischen Separatisten haben sich im Krankenhaus verschanzt. Von hier aus hatten sie freies Schussfeld über die ganze Ebene“, erzählt er und zeigt in Richtung der Stadt, die etwas unterhalb im Morgennebel am Zusammenfluss des Kasennyi Torez mit dem Suchyj Torez liegt. „Die ukrainischen Stellungen befanden dort hinten bei dem Wäldchen“, sagt Vitalij, imitiert mit einem trockenen, kehligen Laut den Abschuss eines Geschosses „Khawomm“ und beschreibt mit dem Arm ganz langsam den Bogen der Flugbahn, die im Haupthaus des Krankenhauses endet.

Ein wochenlanges Inferno

Die Ruinen der zahlreichen Gebäude lassen erahnen, welches Inferno hier über Wochen gewütet haben muss. „Die meisten Patienten konnten rechtzeitig fliehen“, erzählt Vitalij. Was mit den Menschen geschehen ist, die an ihre Betten gefesselt waren? Der Mann zuckt mit seinen breiten Schultern.

Seit dem Abzug der prorussischen Rebellen liegt das Gelände verwaist und erweckt den Anschein einer Kulisse für einen der einschlägigen Weltkriegsfilme. Auf den einst gepflegten Grünflächen wachsen zwischen den Ruinen hohes Gras und wilde Büsche. Zwischen dem Schutt in den zerfallenen Häusern liegen leere Sektflaschen, Reste von morbiden Partys, die hier offenbar im Sommer gefeiert werden.

Über den Krieg wird geschwiegen

In der Slowjansk will niemand über den Krieg sprechen. Der kalte Wind treibt die Schneeflocken über den Asphalt, Menschen hetzen über den sehr großen zentralen Platz vor der Stadtverwaltung. Wo einst Lenin auf einem riesigen Sockel als überdimensioniertes Denkmal über die Stadt wachte, wehen heute ukrainische Fahnen in blau und gelb. Auf kleinen Plakaten steht „Slava Ukraini“, Ruhm der Ukraine, der Schlachtruf der Aktivisten auf dem Maidan in Kiew.

Nur eine Gehminute entfernt, an der Universitetskaja-Straße, hat bei der Belagerung der Stadt eine Granate eingeschlagen. Inzwischen steht an der Stelle ein Rohbau, doch seit Monaten stocken die Arbeiten – keiner weiß, wieso und wann es weiter geht.

Es herrschte Anarchie

Tagelang hätten sich beide Seiten über die Köpfe der Menschen hinweg beschossen, murmelt widerwillig eine alte Frau, die in einer kleinen orthodoxen Kirche gegenüber dem halbfertigen Gebäude Ikonen und Kerzen verkauft. „Es gab weder Strom noch Wasser“, sagt sie. „Es herrschte Anarchie.“ Viele Bewohner seien in die Wälder geflüchtet, weil immer wieder ein Geschoss in der Stadt eingeschlagen sei. Ob das Absicht oder Versehen war, könne sie nicht sagen. Nur noch so viel: „Es war eine sehr schlimme Zeit.“

Auch wenn es im Moment nicht so aussehe, „der Krieg ist noch nicht vorbei“, sagt Stanislav Chernohor in Kramatorsk, einer Stadt nur einen Steinwurf von Slowjansk entfernt. Auch sie war drei Monate von den prorussischen Separatisten besetzt, bevor sich diese praktisch über Nacht kampflos zurückzogen. „Jeden Tag kreisen hier Aufklärungsdrohnen am Himmel, die Gefechte können jederzeit wieder ausbrechen.“ Die Frontlinie, an der fast jeden Tag bei kleinen und größeren Scharmützeln Soldaten sterben, ist knapp 40 Kilometer entfernt. Stanislav Chernohor hat nach dem Ende der Besetzung durch die prorussischen Separatisten einen Verein ins Leben gerufen, der sich zum Ziel gesetzt hat, die kommunalen Verwaltungen in der Region wieder aufzubauen und auch effizienter zu machen. Das heißt vor allem, dass er versucht, die grassierende Korruption zu bekämpfen.

Eine brüchige Waffenruhe

Dann erzählt der junge Aktivist lange von brüchigen Waffenruhe zwischen der Ukraine und den Separatisten, dem völlig zerstörten Vertrauen in die Regierung in Kiew und dass der Krieg Familien auseinandergerissen habe. „Oberflächlich gewöhnen sich die Menschen an alles“, sagt Stanislav Chernohor, „sie gehen zur Arbeit, ins Restaurant – aber nichts ist wie früher.“ Unter der scheinbar intakten Oberfläche gehe ein Riss durch die Gesellschaft.

Auch Olga Scherbina engagiert sich in einer NGO für den Aufbau einer neuen, besseren Zivilgesellschaft in der Ostukraine. Sie erzählt ebenfalls zunehmend resigniert von Problemen, Schwierigkeiten und sehr dürftigen Erfolgen bei ihrer Arbeit. „Hier gibt es viele, die sich während der Besatzung der Stadt offen auf die Seite der prorussischen Separatisten geschlagen haben“, sagt die junge Frau. Doch anstatt jetzt darüber zu reden, werde nun einfach alles totgeschwiegen, was zu permanenten Spannungen in der Gesellschaft führe. Olga Scherbina: „Inzwischen ist es schon ein Problem, russische Musik zu hören.“ Das werde von den selbsternannten „ukrainischen Patrioten“ sofort als Verrat am Vaterland gesehen. „Das hat es früher nicht gegeben, das hat der Krieg aus uns gemacht.“

Die Hoffnung auf Europa

Was beide bei ihrer Arbeit antreibt, ist die Hoffnung darauf, dass die Ukraine den Weg nach Westen einschlagen und eines Tages tatsächlich zu Europa gehören wird. „Wichtig ist zu verstehen, dass hier kein Bürgerkrieg herrscht, sondern ein Krieg zwischen der Ukraine und Russland“, unterstreicht Stanislav Chernohor noch einmal am Ende des Gespräches. Er ist überzeugt, dass sich nach dem Sieg über die Separatisten das Leben schnell wieder normalisieren werde. „Die Ukrainer wollen diesen Krieg nicht. Wir sind ein Volk“, sagt der junge Aktivist. Doch dieser Satz klingt eher wie ein Flehen, als wie eine Feststellung.