Sehr unterschiedlich sind die Gefühlslagen, als die Belegschaft eines mittelständischen Unternehmens in „Zwei Tage, eine Nacht“ über Kollegin Sarah (Marion Cotillard, rechts) abstimmt. Mehr Bilder in unserer Galerie. Foto: Verleih

Der Chef des Unternehmens, für das Sandra arbeitet, hat die Belegschaft vor die Wahl ­gestellt: Entweder, sie bekommen ihre Jahresgratifikation, oder Sandra behält ihren Job – beides sei nicht finanzierbar.

Filmkritik und Trailer zum Kinofilm "Zwei Tage, eine Nacht"

Jeden kann es treffen, jederzeit – ganz besonders in der gebeutelten Wallonie, dem französischsprachigen Teil Belgiens, wo Jobs rar sind und die Krise allgegenwärtig erscheint. So schicken die Gebrüder Dardenne die Mutter und Ehefrau Sandra auf eine Odyssee mit mehr als ungewissem Ausgang.

Der Chef des Unternehmens, für das sie arbeitet, hat die Belegschaft vor die Wahl gestellt: Entweder, sie bekommen ihre Jahresgratifikation, oder Sandra behält ihren Job – beides sei nicht finanzierbar. Und weil sich jeder selbst der Nächste ist, gibt es an einem Freitag in Sandras Abwesenheit ein Votum für das Geld. Der Betriebsrat erwirkt immerhin, dass am Montag noch einmal abgestimmt wird – was Sandra ein Wochenende lässt, um für sich zu werben.

Zunächst ist sie am Boden zerstört, heult, verkriecht sich im Bett. Einfühlsam bringt ihr Mann Manu, selbst arbeitslos, sie dazu, mit Kollegen Kontakt aufzunehmen, Adressen herauszusuchen, loszugehen. Was folgt, ist eine große menschliche Entwicklungsgeschichte, der die famose Marion Cotillard ein Gesicht gibt.

Sie ist einer der großen Stars des französischen Kinos, war in „La vie en rose“ als Edith Piaf zu sehen und zeigte zuletzt in „Rost und Knochen“, wie viel Charakter in ihr steckt: Als Wal-Dompteurin verliert sie da beide Unterschenkel und kämpft sich ins Leben zurück. Das tut sie auch als Sandra, ungeschminkt und in der geschmackfreien Wühltischkleidung der Unterprivilegierten. Sie ficht vor jedem schweren Gang zu einem Kollegen einen inneren Kampf aus, ohne je zu überziehen, sie verhält sich in Gesprächen zunächst ungelenk und wird sich ihrer selbst und der Sache doch immer sicherer.

Nicht weniger schwierig sind die Begegnungen für die anderen, ein repräsentativer Querschnitt kleinerer mittelständischer Belegschaften wie in einer Versuchsanordnung. Den Loyalen ist Kollegialität wichtiger als Geld, das hier eigentlich jeder braucht, die Egomanen wollen gar nicht zuhören, den Zweiflern quillt das schlechte Gewissen aus allen Poren. Und dann gibt es noch die, die aggressiv werden, ihre Wut gegen Sandra richten, weil sie nicht wissen, wohin sonst damit. Auch sie bekommen durch die Situation einen anderen Blick.

Die Gebrüder Dardenne („Lornas Schweigen“, „Der Junge auf dem Fahrrad“) gehen dahin, wo es wehtut, zu denen, die sich durchbeißen, die keine Lobby haben und kaum Aussichten, ihrem mühseligen Dasein zu entrinnen. Neben dem Briten Ken Loach gehören sie zu den prominenten Vertretern des sozialen Filmgewissens alter Schule.

Sie führen ein Belgien der Unorte vor, hoch entwickelt, aber eine Wüste aus verfallenden Altbauten und lieblos hingeworfenem Investoren-Zweckbeton. Selbst das nagelneue, geklinkerte Einfamilienhaus einer Kollegin Sandras wirkt abweisend – wie ein Schutzwall gegen das Elend draußen. Natürlich spiegelt sich in dieser Szenerie die geistige Wüste derer, die über Wohl und Wehe entscheiden: neoliberale Geschäftemacher, die Beschäftigte gnadenlos gegeneinander ausspielen.

Dagegen setzen die Dardennes die Kraft, die Menschen entwickeln können, wenn sie zusammenhalten und den Mut fassen, „Nein“ zu sagen, anstatt sich in Abhängigkeiten zu fügen. „Zwei Tage, eine Nacht“ ist großes kleines Kino über den Zustand der Gegenwart, präzise inszeniert und fotografiert, dass es niemanden kaltlassen kann.

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