Das Versäumnisurteil liegt vor, jetzt kann die Wohnung geräumt werden. Foto: factum/Weise

Immer öfter kommt es bei Zwangsräumungen zu Gewaltausbrüchen. Die Gerichtsvollzieherin Kathrin Pehl kommt trotzdem lieber ohne Polizei. „Ich bin Handballschiedsrichterin“, sagt die 28-Jährige. Genügt das als Qualifikation? Ein Hausbesuch in Sindelfingen.

Sindelfingen - Die Frau von der Wohnungsbaugenossenschaft ist da, der Rechtsanwalt der Geschäftsführung ebenso. Die fünf Männer vom Möbelpackdienst rauchen noch eine. Nur die Mieterin fehlt. Doch, doch, sie werde kommen, sagt Kathrin Pehl. „Gestern habe ich noch mit ihr telefoniert.“ Da biegt ein roter Dacia Sandero zügig auf den Parkplatz ein und hält neben dem Möbelwagen direkt vor den Garagen. Normalerweise gibt das Ärger mit der Hausgemeinschaft. Aber darauf kommt es jetzt wirklich nicht mehr an. Die Frau im Sandero hat die längste Zeit in dem 60er-Jahre-Wohnblock am Sindelfinger Waldrand gewohnt. Die Männer drücken ihre Zigaretten aus. Jetzt wird zwangsgeräumt.

„Ich gehe dahin, wo es weh tut“, sagt Kathrin Pehl. Die 28-Jährige – blonde Haare, schwarzes T-Shirt, rote Jeans – sieht eigentlich ganz harmlos aus. Allenfalls die eckige Brille mit dem schwarzen Rand gibt ihr etwas Strenges. Bei säumigen Schuldnern dürfte ihr Erscheinen aber Hitzewallungen hervorrufen. Heute setzt die junge Gerichtsvollzieherin eine Mutter und ihren halbwüchsigen Sohn vor die Tür. Ein schlechtes Gewissen plagt sie nicht. „Die Frau hatte viele Chancen.“ Seit einem Jahr habe sie keinen Cent Miete mehr bezahlt. 64,5 Quadratmeter für 540 Euro kalt, inklusive Betriebskosten, das sei doch eigentlich nicht viel, findet die Dame von der Wohnungsbaugenossenschaft. Sogar eine Ratenzahlungsvereinbarung habe man angeboten, doch sie sei geplatzt. Da verliere selbst ein sozial eingestelltes Unternehmen wie ihres die Geduld. Das Versäumnisurteil des Amtsgerichts Böblingen datiert vom März. Ein Möbelpacker schiebt sich vorbei und rollt den Wohnzimmerteppich ein.

Gerichtsvollzieher leben gefährlich

Die Arbeit von Gerichtsvollziehern ist gefährlich. Immer wieder eskaliert die Situation. So wie im März in Tübingen: Da steckte ein Mann, dessen Wohnung geräumt werden sollte, das ganze Haus in Brand und sprang aus dem Fenster. Er war sofort tot. Häufig werden aber auch die Gerichtsvollzieher angegriffen. „Die Gewaltbereitschaft ist gestiegen. Die Leute haben keinen Respekt mehr vor Autoritätspersonen“, klagt Rüdiger Majewski vom Landesverband. Er rate dazu, bei Zwangsräumungen die Polizei mitzunehmen.

Kathrin Pehl hat mittlerweile zumindest ein Pfefferspray dabei, nachdem sie es neulich in den Polizeibericht geschafft hat. Da war eine Zwangsräumung in Sindelfingen völlig aus dem Ruder gelaufen. Der Wohnungseigentümer verbarrikadierte sich. Die Polizei musste mit Schild und Rammbock die Tür gewaltsam öffnen. Daraufhin versprühte der Mann Pfefferspray. Drei Polizisten mussten ins Krankenhaus. „Ich komme eigentlich lieber allein“, sagt Pehl. „Ich glaube, das entspannt die Lage.“ Vorher nimmt sie Kontakt auf. „Dann kann ich die Situation einschätzen.“

Letzte Station: Notunterkunft

Was diesen Tag betrifft, geht diese Strategie auf. Die Mieterin schaut verächtlich auf das Personal, das nun damit beginnt, ihr Leben in Plastikfolie einzuschlagen und in den Möbelwagen zu packen. Ansonsten verhält sie sich „kooperativ“, wie Kathrin Pehl das nennt. Am Vortag habe sie noch am Telefon „auf krank gemacht“. Das sei so eine typische Masche, um das Unvermeidliche in letzter Sekunde noch irgendwie abzuwenden. Nun aber fügt sich die Frau in ihr Schicksal, packt Kleider und Bettwäsche in ihren Wagen. Das Sindelfinger Sozialamt hat ihr eine möblierte Notunterkunft besorgt. Die Dame vom Amt für soziale Dienste ist gekommen und gibt noch Einpacktipps. „Wenn Sie den Sitz vorklappen, bekommen Sie noch etwas rein.“ Ein Möbelpacker hilft, den großen Flachbildschirm ins Auto zu verfrachten. Auch der darf mitgenommen werden.

Alle Möbel aber kommen auf den Möbelwagen und werden eingelagert: das weiße King-Size-Bett, die Einbauküche, die Schrankwand mit den Spiegeltüren. Sechs Monate lang müssen die Sachen aufgehoben werden. So lange kann sie die Schuldnerin gegen eine Gebühr auslösen. Dann kommt alles auf den Sperrmüll. Ob vielleicht etwas davon zu Geld zu machen wäre? Die Frau von der Wohnbaugenossenschaft winkt ab. „Das lohnt sich nicht.“ Dabei muss ihr Arbeitgeber einen stattlichen Betrag abschreiben. Zur ausstehenden Miete kommen noch Gerichts- und Anwaltskosten hinzu. Alles muss der Gläubiger vorstrecken. Allein die Zwangsräumung kostet 7000 Euro.

Das nagelneue Auto gehört dem Vater

Ob die Schuldnerin das Geld jemals zurückbezahlen wird? „Sie arbeiten beim Daimler, da verdienen Sie doch nicht schlecht“, versucht es Kathrin Pehl. Ja, aber in den kommenden zwei Jahren gehe gar nichts, sagt die Frau. Da laufe noch ein Privatinsolvenzverfahren. Und der nagelneue Sandero? Der gehöre dem Vater. „Ich nutze ihn, wenn ich einkaufen muss oder zum Arzt gehe“, sagt die Frau. Der Vater wohnt übrigens weit weg im Ausland; doch was will man machen? Pehl lässt sich den Fahrzeugschein zeigen und zuckt dann mit den Schultern.

Dass die Aufgaben, denen sich Gerichtsvollzieher tagtäglich stellen müssen, immer komplexer werden, hat auch die Politik bemerkt. Seit dem vergangenen Jahr wird in Baden-Württemberg die Ausbildung zentral in einem Bachelor-Studiengang an der Fachhochschule in Schwetzingen geführt. Dort sind auch Selbstverteidigung und Psychologie wichtige Themenbereiche. Für Kathrin Pehl, die vor zwei Jahren von der Notariatsangestellten zur Gerichtsvollzieherin umschulte, kommt das zu spät. Trotzdem wisse sie, was sie zu tun habe. „Ich war Handballschiedsrichterin und im Vorstand vom Narrenverein“, erklärt sie ihr Selbstbewusstsein.

Der letzte Groschen

Dann finden die Männer von der Möbelpackfirma doch noch etwas Geld. In einer Drei-Liter-Rumflasche hat jemand ein paar Cent-Münzen gesammelt. Einer stellt sie auf die Ladefläche, doch keiner interessiert sich dafür. Die Frau holt noch ein paar private Gegenstände. Dann ist alles weg. An der Wohnungstür baumelt das Schild für die Kehrwoche. Die bleibt diesmal unerledigt.