Nur selten sah man ihn ohne eine seiner Menthol-Zigaretten in der Hand, selbst im deutschen Fernsehen durfte er qualmen. Für wen sonst hätte man da eine Ausnahme gemacht, wenn nicht für den Altbundeskanzler Helmut Schmidt.Jetzt ist er nach immer wiederkehrenden Leiden gestorben. Foto: dpa

Noch Jahrzehnte nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler imponierte Helmut Schmidt den Deutschen, er war zur politischen Kultfigur geworden. Am 10. November ist er im Alter von 96 Jahren gestorben.

Hamburg - „Wir kamen aus dem Kriege, wir haben viel Elend und Scheiße erlebt im Kriege, und wir waren alle entschlossen, einen Beitrag dazu zu leisten, dass all diese grauenhaften Dinge sich niemals wiederholen sollten in Deutschland.“ So sprach Helmut Schmidts über seinen Antrieb, sich für den Staat zu engagieren. Ein Politiker aus Leidenschaft, geradeaus, von bestechender Intellektualität. Jetzt ist Schmidt, der große Diener der Republik, im Alter von 96 Jahren in Hamburg gestorben.

Ein Mann, der auftrumpfen konnte. Mit messerscharfer Rhetorik trieb „Schmidt-Schnauze“ den politischen Gegner in die Ecke, in der Debatte – im Bundestag, in der Talkshow – war er in seinem Element. Für manche trat er zu arrogant, zu belehrend, zu besserwisserisch auf, doch die Fähigkeit zu politischer Führung konnte man ihm nicht absprechen.

Schmidt war kein Kanzler der Herzen, nein, sein Politikstil war von kühlem Pragmatismus geprägt. Seine große Ära war die Kanzlerzeit zwischen 1974 und 1982 – eine Zeit mit schweren Krisen innen- und außenpolitisch. Der Kalte Krieg war noch lange nicht überstanden, der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan Ende 1979 sorgte für neue Ängste. Schmidt aber führte souverän durch kritische Phasen. Bei ihm sahen die Deutschen ihre Sorgen gut aufgehoben, mit seinem kühlen staatsmännischen Auftreten stach Schmidt den Polterer Franz Josef Strauß aus, der 1980 als Kanzlerkandidat grandios scheiterte.

Verteidigungsminister unter Willy Brandt

Schmidt blieb in der Erinnerung an seine Regierungszeit bescheiden: „Es ging mir nicht darum, die öffentliche Meinung zu befriedigen“, sagte er einmal. Für ihn war die Kanzlerschaft, die ihm als Folge der Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume zufiel, eine reine Pflichterfüllung. Zuvor war er im ersten Kabinett von Willy Brandt (1969-1972) Verteidigungsminister, nach dessen Wiederwahl 1972 Finanzminister.

Eine starke Frau war an seiner Seite – mit „Loki“, eigentlich Hannelore, war er 68 Jahre verheiratet. Sympathisch, gescheit, bodenständig, eine ambitionierte Naturschützerin, war sie auch im hohen Alter voller Tatendrang und Lebenslust. Sie starb im Oktober 2010.

Der Ex-Kanzler schaltete sich auch im hohen Alter immer wieder in die politische Debatte ein. Ende 2013 forderte er dazu auf, die deutschen Rüstungsexporte zu stoppen: „Es ist an der Zeit, Einspruch zu erheben“, schrieb er in seinem Hausblatt „Die Zeit“. Deutschland sei heute der drittgrößte Waffenexporteur. Es rangiere damit vor China, Japan, Frankreich und vor Großbritannien – direkt hinter den USA und Russland. „Eine Entwicklung, die mir sehr missfällt. Und die gestoppt werden muss“, so Schmidt voller Empörung. Und Ende 2013 feuerte Schmidt eine Breitseite auf das EU-Parlament und die EU-Kommission ab: Diese Institutionen arbeiteten nicht sehr gut, und auch die Arbeit der nationalen Regierungen lasse zu wünschen übrig. Seit dem Zweiten Weltkrieg hätten nur der Brite Winston Churchill und der Franzose Charles de Gaulle herausgeragt. Die Qualität europäischer Staats- und Regierungschefs sei immer weiter gesunken. In der Ukraine-Krise setzte sich Schmidt für mehr Verständnis für Russland und Präsident Wladimir Putin ein. Andernfalls sei nicht völlig ausgeschlossen, dass aus dem Konflikt um die Ukraine „sogar ein heißer Krieg wird“.

Geadelt von Horst Köhler

Auch während der Finanzkrise war er als Mahner zur Stelle. Das war ja auch sein ureigenes Metier. Statt rechtzeitig einzugreifen, hätten sich die Politiker allzu lange auf die Illusion von Selbstheilungskräften der Finanzmärkte verlassen. So sprach der einstige Weltökonom, und Deutschland lauschte ergriffen. „Die Qualität seines Urteils ist einzigartig“, urteilte der damalige Bundespräsident Horst Köhler. Anderen hingegen ging die ständige Nörgelei auf die Nerven.

2008 wurde Schmidt zum „coolsten Kerl“ der Republik gewählt – vor dem Schauspieler Til Schweiger. Seine Autobiografie „Außer Dienst“ eroberte den ersten Platz der Bestsellerliste. Und seine Plaudereien „Auf eine Zigarette“ mit dem „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo wurden ebenfalls zum Kassenschlager. Die schrulligen Einwürfe des Elderstatesman sind noch heute eine amüsanten Lektüre. Auswendig zitierte Schmidt darin Joachim Ringelnatz: „Drüben im Walde/Kängt ein Guruh /Warte nur balde/Kängurst auch du.“ Diese Art von Humor gefiel dem sonst so nüchternen Hanseaten. Zu seinem 90. Geburtstag kam er als Pianist ganz groß raus: Die Deutsche Grammophon legte seine Bach-Einspielung von 1985 wieder auf. In der Ankündigung hieß es: „Schmidt spielt, wie er regierte: klug, präzise, mitfühlend.“

Schmidt wurde am 23. Dezember 1918 in Hamburg-Barmbek als Sohn des Volksschullehrers und Diplomhandelslehrers Gustav Schmidt und dessen Frau Ludovica geboren. Der strenge Vater („bei Mutti habe ich mich ausgeweint“, unehelicher Sohn eines Bankiers, vertuschte seine jüdischen Wurzeln während des Nationalsozialismus. Schmidt machte an der Hamburger Lichtwarkschule 1937 Abitur und war nach eigener Aussage „innerlich auf den Beruf des Städtebauers, auch des Architekten vorbereitet“. Der Zweite Weltkrieg machte diese Pläne zunichte. Schmidt musste zum Reichsarbeitsdienst, anschließend als Wehrpflichtiger zur Flakartillerie. 1941/1942 kämpfte er an der Ostfront in einer Panzerdivision, war dann dem Oberkommando der Luftwaffe zugeteilt und 1944/1945 an der Westfront eingesetzt, zuletzt als Oberleutnant und Batteriechef. Schmidt räumte ein, dass er erst 1944 begriffen hatte, „dass Hitler ein Verbrecher war“. Dann habe er gewusst, „dass dieser Krieg in einem furchtbaren Schlamassel endet“.

Seit 1983 bei der "Zeit"

Nach kurzer britischer Kriegsgefangenschaft studierte er von 1945 bis 1949 in Hamburg Staatswissenschaften und Volkswirtschaft. Früh politisch engagiert, wurde Schmidt 1946 Mitglied der SPD und war 1947/1948 Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS). 1953 wurde Schmidt in den Bundestag gewählt, sein Mandat gab er 1987 auf. Seit 1983 hatte er sich der Wochenzeitung „Die Zeit“ zu seinem neuen Podium gemacht, wurde dort Mitherausgeber.

Er genoss die Hochachtung, die ihm entgegengebracht wurde. Mit den Jahren trat er sympathischer, liebenswürdiger, humorvoller auf. Das Gehör ließ zwar nach, weswegen er auch die Musik nicht mehr genießen konnte, und alsbald war er auf den Rollstuhl angewiesen – aber seine Debattierlust hatte er sich bis ins hohe Alter bewahrt.

„Er sagt, was er denkt, und er ist sehr treu und feinfühlig. Wenn er dir etwas verspricht, dann hält er das“, erzählte sein enger Freund, der ehemalige französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing. Die Freundschaft mit Giscard bestärkte Schmidt in dem Willen, „nie ohne die Franzosen“ zu handeln. Und der frühere US-Außenminister Henry Kissinger drückte einmal die Hoffnung aus, „dass er mich überlebt. Ich möchte nicht in einer Welt ohne Schmidt sein.“ Der „Spiegel“ lobt ihn als einen, der die jährlichen Weltwirtschaftsgipfel inspirierte: „Schmidts Stern leuchtete bei solchen Treffen besonders hell, denn intellektuell und rhetorisch konnte ihm in der westlichen Welt der siebziger Jahre kaum jemand das Wasser reichen.“ Auf US-Präsident Jimmy Carter war Schmidt jedenfalls gar nicht gut zu sprechen, schreibt der Biograf Hans-Joachim Noack. „Dass man diesen Arschlöchern immer die Welt erklären muss“, soll Schmidt nach Telefonaten mit Carter und dem sowjetischen Staatschef Leonid Breschnew gestöhnt haben.

Mogadischu war seine größte Herausforderung

Bei der härtesten Bewährungsprobe seiner Amtszeit – dem RAF-Terror 1977 – war aber nicht der Rhetoriker, sondern der Staatsmann gefragt. Schmidt führte entschlossen und umsichtig. Als beim Sturm auf die entführte Lufthansa-Maschine durch die GSG 9 in Mogadischu keine Geisel und auch kein Polizist ums Leben kamen, war dies Schmidts größte Stunde – allerdings wurde Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer kurz darauf ermordet aufgefunden. Seine Entschlossenheit, den Terroristen auf keinen Fall nachzugeben, verteidigte er später mit den Worten: „Weiß der Kuckuck, was andernfalls aus Deutschland geworden wäre.“ 2013 wurde Schmidt mit dem Hanns-Martin-Schleyer-Preis geehrt, und er fand bei dieser Gelegenheit bewegende Worte: „Wohl aber ist mir sehr klar bewusst, dass ich – trotz aller redlichen Bemühungen – am Tode Hanns Martin Schleyers mitschuldig bin. Denn theoretisch hätten wir auf das Austauschangebot der RAF eingehen können“, sagte der Altkanzler.

Seinen Ruf als Krisenmanager hatte Schmidt schon im Februar 1962 erworben, als er – damals Hamburger Innensenator – mit meisterhaftem Organisationstalent gegen die damalige Flutkatastrophe ankämpfte. Er nutzte seine Kontakte zur Bundeswehr und zur Nato – ein Schritt, der den Einsatz entscheidend voranbrachte.

Mit seiner eigenen Partei wurde Schmidt allerdings nie so richtig warm. Sein Beharren darauf, die von der Sowjetunion gegen Westeuropa gerichteten SS-20-Raketen mit dem Nato-Doppelbeschluss zu kontern, trennte ihn allmählich von der Mehrheit der Genossen und lieferte der ohnehin schon schwankenden FDP den Vorwand, sich aus seiner Regierung zu stehlen.

Schmidt musste den Bruch hinnehmen – er tat es mit dem ihm eigenen Sinn für das Unvermeidliche. Was blieb ihm anderes übrig? Auf Gebete hat er, der Mann mit dem unbeirrbaren Sinn für das Machbare, ohnehin nie gesetzt. Seine Welt war frei von Visionen. Wenn man die habe, so sagte er einmal, sollte man zum Arzt gehen.