Historische Geste: Der französische Staatspräsident Francois Mitterrand und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl (re.) reichen sich am 22. September 1984 über den Gräbern von Verdun die Hand. Foto: dpa

Auch 2014 toben auf der Welt viele Kriege – Warum die Weihnachtsbotschaft dennoch Hoffnung auf Versöhnung macht.

Stuttgart - Es fing damit an, dass sie ihre Verwundeten und Gefallenen bergen wollten: Soldaten in den Schützengräben in Flandern, im Ersten Weltkrieg, zu Weihnachten 1914. Was sich daraus entwickelte, hat auch noch nach 100 Jahren etwas von einem Wunder. An einigen Abschnitten der deutsch-englischen Front kam es spontan zu einem kurzen Waffenstillstand. Man gab sich die Hände, sang und rauchte gemeinsam. Ein bisschen Frieden mitten im Gemetzel. Wie gesagt, es war Weihnachtszeit.

„Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ In einer älteren, weit verbreiteten Fassung heißt es „. . . und den Menschen ein Wohlgefallen“. Das ist eine zentrale Passage der Weihnachtsgeschichte des Evangelisten Lukas, die an diesem Heiligen Abend wieder in allen Kirchen gelesen wird. Vom Frieden singen die Engel, die „Menge der himmlischen Heerscharen“. Eine Hymne, Gottes Bildunterschrift, die himmlische Erklärung zur Geburt Jesu im Stall von Bethlehem: Frieden soll herrschen.

2014 – eine Welt voller Unfrieden

Eine Aussage, die Widerspruch herausfordert. Frieden wäre gewiss schön. Aber welche Chancen hat er denn? Derzeit nicht die besten. Die Welt ist am Ende des Jahres 2014 voller Unfrieden. Unversöhnlich stehen sich Menschen gegenüber. In der Ukraine, in Nigeria, in Zentralafrika, in Syrien, im Irak, in Pakistan. Auch im Heiligen Land selbst, in Israel, droht eine neue Spirale der Gewalt. Ist also Friede auf Erden nur ein abgenutzter Allgemeinplatz? Ein Hohn angesichts der Kriegsschauplätze auf der Erde? Eine willkommene, letztlich aber folgenlose Floskel in den Wohlstandsgesellschaften Mitteleuropas?

In unserer Gesellschaft wirkt der Satz beschaulich. Doch die Weihnachtsgeschichte ist bei näherer Betrachtung alles andere als beschaulich. Der Evangelist kennt die Untiefen der Welt. Lukas schildert eine problematische Geburt in einem sozial schwierigen Umfeld. Gott, so sagt die Bibel, kommt in diesem Milieu in Gestalt eines jüdischen Kindes zur Welt. Und auch das ist wichtig. Das Kind Jesus wächst als Jude auf, in der Tradition Israels. Versöhnung und Frieden spielen in seinem Leben eine große Rolle. Denn Versöhnung ist im Judentum eine unverzichtbare Stufe auf dem Weg zu Gott.

Jom Kippur - der Versöhnungstag

Der höchste jüdische Feiertag ist Jom Kippur, der Versöhnungstag. Es gibt ihn seit dem babylonischen Exil der Juden. Zur Zeit der Geburt Jesu war das schon fast 600 Jahre her. An Jom Kippur ruht in Israel heute noch das öffentliche Leben, das Land hält inne. Der Gedanke: zur Ruhe kommen und alles ausräumen, was zwischen Mensch und Gott steht. Auch und gerade die Feindschaft der Menschen untereinander, nachtragende Gedanken, ja sogar Hass und Rachsucht.

Eine im wörtlichen Sinn erhellende Geschichte der Chassidim, der frommen Juden Osteuropas, zeigt, welches Gewicht Versöhnung hat. Ein Rabbiner, ein jüdischer Geistlicher, fragte seine Schüler: „Sagt mir, woran können wir erkennen, wann die Nacht vorbei ist und der Tag beginnt?“ Die Schüler machten Vorschläge wie: „Wenn man einen Mandel- von einem Feigenbaum unterscheiden kann.“ Doch der Rabbi schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er. „Solange ihr im Gesicht eures Nächsten nicht eure Schwester oder euren Bruder erkennt, so lange ist die Nacht bei uns noch nicht vorbei.“

Zuerst den Menschen sehen, nicht den Fremden; den Nächsten, nicht den Feind – genau so predigte und handelte Jesus, dessen Geburtstag an Weihnachten gefeiert wird. Er selbst steht für Versöhnung und Frieden. Allerdings nicht für eine nebulöse Welt-Versöhnung. Sondern für etwas, was der glaubensentwöhnte Mensch von heute zunächst schwer versteht: für die Versöhnung Gottes mit den Menschen, die mit dem Frieden eng verknüpft ist. Sie zeigt sich darin, dass Gott als Kind den Menschen auf Augenhöhe entgegenkommt.

Die Geburtsgeschichte von Bethlehem – Frieden ist möglich

Auch wer die Geburtsgeschichte von Bethlehem mit ihrem Stern und den Chören der Engel nicht im wörtlichen Sinne glauben kann, muss doch anerkennen: Das ist ungewöhnlich. Dieser Gott durchbricht die menschlichen Rangordnungen, er schiebt die Hierarchie beiseite, wird Mensch unter Menschen und gibt damit jedem Menschen auf der Welt eine besondere Würde.

Wie kann man das heute verstehen: Versöhnung Gottes mit den Menschen? Dafür muss man sich mit dem christlichen Menschenbild auseinandersetzen. Danach hat der Mensch zwar gute Ansätze und Anlagen, scheitert indes an sich selbst, handelt selbstsüchtig, ist eitel, neidisch, machtgierig. Dieses Bild widerspricht dem heute gängigen Glauben, man könne durch immer weiter getriebene Selbstoptimierung ein möglichst perfektes, erfolgreiches Leben führen.

Die christliche Überzeugung lautet dagegen: Der Mensch kann sich nicht selbst vervollkommnen oder erlösen. Er scheitert an diesem Ziel, doch selbst dann nimmt Gott ihn an. Damit relativiert die Krippe von Bethlehem das heute weit verbreitete Leistungs- und Bewertungsdenken. Auch die Sucht, alles und jeden zu bewerten und in Ranglisten einzusortieren.

Weihnachten – Gottes menschliches Antlitz

Weihnachten zeigt diesen Gott mit menschlichem Antlitz, schutzlos als kleines Kind – ein Bild von großer Kraft. Eigentlich müsste es Konsequenzen für den Wunsch nach Versöhnung und Frieden haben. Freilich haben Vertreter des Christentums in den 2000 Jahren, seit sie wirken, nicht immer danach gehandelt. Sie haben in den Anders- und Nichtgläubigen oft nicht das Antlitz Gottes gesehen, haben diese unterdrückt und verfolgt. Doch die Kraft dieses Bildes setzte sich immer wieder durch; sie macht frei. Wo das geschieht, tragen Christen zur Versöhnung und zum Frieden bei.

Ein solcher Beitrag ist die „Aktion Sühnezeichen“, entstanden auf Initiative von Lothar Kreyssig. Der Richter und Protestant wurde in der Nazizeit zum Mitglied der oppositionellen Bekennenden Kirche. Er regte nach dem Krieg an, dass junge Deutsche eine Art Sühnedienst in den Ländern leisten sollten, die unter der deutschen Herrschaft gelitten hatten. Was Skeptiker zunächst als unmöglich abtaten, hat zu vielen positiven Erfahrungen geführt, sogar in Israel und Polen. Ein weiteres Beispiel ist die deutsch-französische Aussöhnung in den 60ern. Sie wurde vorangetrieben vom Engagement zweier Männer, die kühle Machtmenschen waren, aber auch Katholiken – Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer. Sie fühlten sich verbunden in ihrem Streben, sich mit dem jahrhundertealten Erbfeind zu verständigen.

Franziskus – die Sehnsucht nach dem Friedenspapst

Aktuell hat Papst Franziskus die Radikalität, die in diesem christlichen Ansatz steckt, aufgenommen und weitergedacht. Er sagte neulich, man müsse auch mit den Vertretern des Islamischen Staates reden. Dagegen sträubt sich zunächst der freiheitlich-westlich denkende Mensch. Geht das nicht zu weit? Doch Gott, so die christliche Überzeugung, geht immer wieder über alles menschlich Denkbare hinaus.

Wenn man die Weihnachtsbotschaft nicht nur nebenbei, als bloße Zugabe für die eigene seelische Wellness konsumiert, dann wird klar: Das Kind in der Krippe macht es einem nicht leicht. Frühere Generationen wussten das. Im alten Kirchenlied „Es kommt ein Schiff geladen“ heißt es: Wer dieses Kind „umfangen, küssen will, muss vorher mit ihm leiden, groß Pein und Marter viel“.

Frieden und Versöhnung brauchen Zeit

Eine abschreckende Botschaft zu Weihnachten? Eher eine realistische: Frieden und Versöhnung brauchen viel Arbeit, und sie sind oft verbunden mit Rückschlägen, mit Schmerzen, Niederlagen. Wie die Kriegsschauplätze des Jahres 2014 zeigen. Noch nötiger für Versöhnung ist daher Geduld. Und am notwendigsten ist Hoffnung. Frieden und Versöhnung sind darauf angewiesen. Die Weihnachtsbotschaft lautet: Die Menschen können hoffen, denn es gibt weit mehr auf der Welt als Gewalt und den Kampf ums Überleben. Wenn Gott den Graben zu den Menschen überbrückt hat, dann hat auch der Brückenschlag von Mensch zu Mensch eine Chance. So gilt der Gesang der Engel: „Friede auf Erden.“