Auch leichtes, elegantes Wohnen ist gemütlich Foto: Freistil/Rolf Benz

Ist Gemütlichkeit ein Synonym für Spießbürgertum? Überhaupt nicht, sagt Trendanalystin Ursula Geismann. Gemütlichkeit ist in!

Frau Geismann, eine Wohnung, in der sich Kissenberge auf dem Sofa türmen, die mit Nippes vollgestopft ist, in der überall Kerzen brennen und flauschige Teppiche dominieren – ist die gemütlich?
Das ist natürlich relativ – und individuell sehr verschieden. Was Sie aufzählen, geht in Richtung Landhausstil, der allgemein als gemütlich gilt. Die einen fühlen sich in so einer eher plüschigen Umgebung wohl und empfinden sie als warm und kuschelig. Anderen jedoch ist so etwas zu viel. Sie fühlen sich dadurch eingeengt, ja geradezu erdrückt, da sie es nüchterner, kühler, sachlicher mögen.
Auch eine nüchterne oder eine stilvolle, elegante Einrichtung kann somit gemütlich sein?
Das eine schließt das andere überhaupt nicht aus. Man sollte auch nicht werten: Geschmäcker sind nun mal verschieden. Und das ist ja das Verrückte an dem Begriff Gemütlichkeit: Jeder verbindet damit etwas anderes.
Gemütlichkeit gilt aber auch als sehr deutsch.
Stimmt. Das merkt man schon daran, dass es in vielen Sprachen gar keine passende Übersetzung gibt. Im angelsächsischen Raum wird sogar oft das deutsche Wort verwendet, um das Lebensgefühl auszudrücken.
Woran könnte das liegen?
Ich bin keine Soziologin. Aber die Verortung in Deutschland hat vermutlich unter anderem mit der Wetterlage zu tun. Anders als etwa in Spanien oder Italien ist es hierzulande zu kühl und zu nass, als dass man den Hauptteil der Freizeit im Freien verbringen könnte. Stattdessen halten wir uns im Schnitt etwa 340 Tage in unseren Häusern oder Wohnungen auf. Da ist nachvollziehbar, dass man es sich schön und angenehm machen will. Die Deutschen sind Einrichtungseuropameister: Jedes Jahr werden pro Kopf 400 Euro für Möbel ausgegeben. Dazu kommen noch mal 170 Euro für Accessoires wie Lampen, Kissen oder Teppiche.
Ist unser Empfinden vielleicht auch durch Kindheitserinnerungen geprägt?
Bestimmt, schon Goethe hat ja gesagt, dass die Prägung in der Kindheit stattfindet – und dann auch meist so bleibt. Dennoch hat sich der Gesamtgeschmack in Deutschland erheblich geändert. Wenn man an die Gemütlichkeit der Nachkriegszeit, 50er und 60er Jahre denkt, aber auch der 70er und 80er, hat man sich wegbewegt vom Altdeutschen, von der Piefigkeit. Dunkle Eiche, schweres Leder, Accessoires aus dem Kunstgewerbebereich, etwa die Plastikgondel aus Venedig, und große Schrankwände, die 30 Jahre lang nicht von der Stelle gerückt wurden, schon weil sie viel zu sperrig waren – nein, so richtet sich heute keiner mehr ein.
Wann hat das Umdenken begonnen?
Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre. Durch die verschiedensten Einflüsse. Die neue Gemütlichkeit ist viel sachlicher. Und vor allem durch skandinavisches Design geprägt. Der große Schwede Ikea hat da natürlich seinen Teil dazu beigetragen, was die Formensprache und die Auswahl von Farben und Materialien betrifft. Kurz gesagt, ging es weg vom Gelsenkirchener Barock – und hin zu einem leichteren Wohnen. Die Gemütlichkeit holt man sich nun zum Beispiel mit Elementen wie Tapeten, hochwertigen Stoffen oder natürlichen Materialien ins Haus.
Wohnen unterliegt also auch der Mode?
Klar, der Zeitgeist spielt immer eine Rolle. Es gibt natürlich Klassiker, die bis heute funktionieren. Nehmen wir mal den Bauhausstil. Ein Stuhl von Marcel Breuer etwa. Der galt in den 20er Jahren den meisten Menschen zwar als Avantgarde, als eher kühl und unbehaglich. Heute wird er als modern und schick empfunden, als Klassiker. Auch der Nierentisch aus den 50ern ist längst zurück. Die Schrankwand in Eiche rustikal möchte im Moment aber keiner haben. Dennoch schließe ich nicht aus, dass sie irgendwann wieder in sein wird.
Wie sieht es mit kulturellen Unterschieden beim Wohnen aus?
Die gibt es, aber sie werden durch die Globalisierung immer minimaler. Ob in Hamburg, New York oder Schanghai – das Leben in der Stadt hat sich angeglichen und somit auch die Art, wie wir uns einrichten.
Müssen Möbel heute noch was hermachen?
Auf jeden Fall. Doch was als repräsentativ gilt, hat sich verschoben. In der Wirtschaftswunderzeit protzte man mit dem Wohnzimmer. Denn dort saß man mit den Gästen, bei einem Glas Sekt und Zigaretten. Heute sind die Bereiche Kochen, Essen und Wohnen oft verschmolzen. Man investiert in die Küche und in den Essbereich . . .
. . . und bleibt generell eher daheim?
Ja, Homing – also ein großzügiges, kuscheliges Wohngefühl – ist Trend. Das Zuhause wird zum sozialen Lebensmittelpunkt, wo man sich mit Freunden trifft und feiert. Gemeinsames Kochen in einer möglichst großen, offenen Küche ersetzt Restaurantbesuche. Auch Spieleabende sind in.
Mit welchen Folgen für die Möbelindustrie?
Da man häufig am Tisch bleibt und es dort gemütlich haben will, wurden zum Beispiel Ess-Sessel erfunden, in denen man bequem sitzt. Zudem ist der Tisch zum zentralen Einrichtungsstück geworden. Wertigkeit drückt man etwa mit Größe und Naturmaterialien aus. Auch Kaminöfen und Hochflorteppiche sind beliebt. Dazu Tapeten, flauschige Decken, mit denen man auch Farbakzente setzen kann, und Zierrat wie Vasen.
Woher kommt der Trend zum Homing?
Er hat vermutlich mit den unsicheren Zeiten zu tun, in denen wir leben. Klar ist: Möbel müssen verstärkt auch „etwas können“. Der Flachbildschirm etwa muss im Multimediamöbel versenkbar sein und das Sofa höhenverstellbar, da es so bequemer ist.
Gemütlichkeit spielt also eine zentrale Rolle.
Ja, daher ist zum Beispiel auch der Ohrensessel wieder zurück, in den man sich schön einmummeln kann.
 

Zur Person

Ursula Geismann Foto: koelnmesse

Ursula Geismann, geboren 1964, beobachtet und analysiert Designentwicklungen und Trends beim Einrichten, beim Wohnen und bei Möbeln.

Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre und der Politologie an den Universitäten Mainz und Hamburg arbeitete sie zunächst einige Jahre in der Markt- und Meinungsforschung.

Seit 18 Jahren ist sie Pressesprecherin des Verbands der deutschen Möbelindustrie.

Als Trendanalystin wagt sie gern einen Blick in die Zukunft des Wohnens, zuletzt mit der Publikation „Megatrends“, die auf der Webseite www.moebelindustrie.de abrufbar ist.