Wolfgang Joachim Müller daheim in Sillenbuch Foto: Peter Petsch

Wolfgang Joachim Müller, 72, hat 151 Länder bereist und penibel Tagebuch geführt. Aber sein erstes Buch widmet der ehemalige Grundschullehrer dem Viertel im Stuttgarter Osten, in dem er aufgewachsen ist: dem Ameisenberg.

Wolfgang Joachim Müller, 72, hat 151 Länder bereist und penibel Tagebuch geführt. Aber sein erstes Buch widmet der ehemalige Grundschullehrer dem Viertel im Stuttgarter Osten, in dem er aufgewachsen ist: dem Ameisenberg.
 
Stuttgart - Herr Müller, Sie haben mit „Ameisenberg“ eine Liebeserklärung an das Viertel Ihrer Jugend geschrieben. Jetzt wohnen Sie in Sillenbuch. Was ist da schiefgelaufen?
Da ist nichts schiefgelaufen. Mein Elternhaus am Ameisenberg befand sich in einem renovierungsbedürftigen Zustand. Wertvoll war vor allem seine Lage in Innenstadtnähe. So habe ich es verkauft und von dem Erlös in Sillenbuch eine schöne Wohnung und ein Gartengrundstück erworben. Aber mein Herz hängt immer noch am Ameisenberg.
Was auch am Tennisclub Ameisenberg liegt.
Ja, ich treffe mich fast jede Woche mit meinen Vereinskameraden. Regelmäßig besuche ich auch unser Familiengrab auf dem Bergfriedhof. Ich kehre immer wieder gern an die Plätze zurück, die mit so vielen Erinnerungen verbunden sind.
Was hat Sie zu dem Buch getrieben?
Da muss ich etwas ausholen. Mein großes Hobby ist das freie Reisen. Nach meiner Pensionierung bin ich im Alleingang mit dem Rucksack von Stuttgart durch Osteuropa, den Kaukasus, Zentralasien und China nach Korea gezogen. Afrika habe ich im Verlauf von vier Jahrzehnten vom Nildelta bis zum Kap der Guten Hoffnung mit einem dichten Netz an Routen überzogen. Fünf Jahre lebte ich in Südamerika. Meine Erlebnisse hielt ich in meinen Reisetagebüchern fest. Oft höre ich von Freunden und Familienangehörigen, ich solle damit doch an die Öffentlichkeit treten. Aber ich möchte das nicht, denn es wird so viel über das Reisen geschrieben. Da brauche ich nicht auch noch mitzumischen. Als Kontrastprogramm verfasste ich ein Buch über den Ameisenberg, über jenes Fleckchen Erde, das mir am meisten am Herzen liegt.
Bis wann haben Sie auf dem Ameisenberg gelebt?
Mit Anfang zwanzig bin ich aus beruflichen Gründen weggezogen, aber solange mein Vater und meine Mutter noch lebten, bin ich oft in mein Elternhaus zurückgekehrt.
Für Journalisten ist Schreiben Broterwerb, für Sie scheint es ein Ausgleichssport zu sein.
So ist es. Mein ganzes Leben lang bereitete mir das Schreiben Freude. Schon als Jugendlicher führte ich fünf Jahre lang ein Tagebuch. Darin habe ich dokumentiert, was ich in der Schule und auf dem Tennisplatz erlebte und wie ich das Mädchen kennenlernte, das in meinem Buch die Hauptrolle spielt.
Das erklärt, warum Ihre Jugenderinnerungen so detailliert sind.
Es mag an meinen Eintragungen, aber auch an meinem guten Gedächtnis liegen.
Ihre Erzählung ist in zweifacher Hinsicht eine Liebeserklärung: an den Ameisenberg, aber auch an eine Jugendliebe.
Das kann man so sagen. Ich wollte die Wohngegend, in der ich aufgewachsen bin, in eine Erzählung einbinden. Die Handlung beschränkt sich ganz bewusst auf einen kurzen Zeitraum von einem Jahr.
Wie würden Sie das Viertel Ameisenberg beschreiben?
Im oberen Teil rund um die Uhlandshöhe wohnen gut situierte Leute, weiter unten die weniger Betuchten. Ich würde das Viertel mit der Ameisenbergstraße, der oberen Haussmannstraße und der Wagenburgstraße vom Heidehof bis zum Wagenburgplatz umreißen. Jener Teil der Haussmannstraße, der von manchen Leuten noch immer Kanonenweg genannt wird, ist bis heute meine Lieblingsspaziermeile in Stuttgart. Neulich stand ich am Zebrastreifen gegenüber der Waldorfschule und dachte: „Damals habe ich hier auf sie gewartet . . .“
Woher kommt der Name Ameisenberg?
Viele Leute sagen, er käme von „Am Eisenberg“, weil hier früher Erz abgebaut wurde, dessen Eisengehalt aber so gering war, dass sich der Abbau in neuerer Zeit nicht mehr lohnte. Andererseits steht in uralten Flurkarten schon die Bezeichnung „Ameisenberg“. Es könnte sein, dass der Name vielleicht doch von Krabbeltieren herrührt.
Sie beschreiben im Buch, wie Sie in der Schule drangsaliert wurden und im Tennisclub Zuflucht suchten.
Ich habe das vielleicht etwas überspitzt dargestellt. Tatsächlich litt ich unter den Zuständen, die an der Schule herrschten. Zum Glück gab es den Tennisclub. Dort fühlte ich mich immer wohl und fand gute Freunde.
Tennis war in den fünfziger Jahren noch elitär. Sie kommen aus einfachen Verhältnissen. Wie kamen Sie zu dem Sport?
Es ist richtig, im TCA spielten damals nur wohlhabende Leute und deren Kinder. Mein Vater arbeitete als einfacher Angestellter bei ESSO. Er sagte: „Schlag’ dir das aus dem Kopf, Junge! Das ist ein Sport für die Reichen. Da passt du nicht hin!“ Trotzdem ging ich schon als Zehnjähriger zum Bälle-Auflesen auf den Platz. Allein durch das Zuschauen lernte ich viel über das Tennisspiel. Nun bin ich seit sechs Jahrzehnten Mitglied in diesem Verein und passe sehr wohl hin.
Und die Mitgliedsbeiträge?
Die finanzierte ich anfangs mit dem Geld, das ich als Balljunge verdiente. Später jobbte ich während des Studiums in den Semesterferien als Straßenbahnschaffner.
Gehen wir weg vom Ameisenberg. Was ist Ihr liebstes Reiseland?
Oje, das ist schwer zu sagen. Spontan fallen mir einige Länder ein: Kuba mit seiner überschäumenden Lebensfreude, die Kapverdischen Inseln wegen der Freundlichkeit und Musikalität seiner Bewohner, Marokko mit seiner mittelalterlichen Handwerkerkultur, Usbekistan und Syrien wegen ihrer wunderbaren Baudenkmäler . . .
Woher kam Ihre Reiselust?
Schon als Kind verschlang ich abenteuerliche Geschichten über das Reisen. Später faszinierten mich Alexander von Humboldts Expeditionen in Südamerika. Mit seinem Buch in der Tasche bereiste ich monatelang Venezuela, Kolumbien und Ecuador. Ich erinnere mich auch an ein hochbetagtes Journalistenehepaar, das zu jener Zeit, als ich noch aufs Gymnasium ging, in unserer Nachbarschaft wohnte. Die alten Leute erzählten mir von ihrer Tätigkeit in London und Paris, New York und San Francisco. So steckten sie mich mit dem Reisevirus an.
Sie haben 151 Länder bereist. Gibt es noch weiße Flecken auf der Landkarte?
Natürlich gibt es die. Wenn jemand behauptet, er kenne die ganze Welt, dann kann das gar nicht stimmen. Ein Menschenleben ist viel zu kurz, um unseren Planeten in all seiner Vielfalt kennenzulernen. Selbst in Stuttgart entdecke ich immer wieder Neues. Erst vor kurzem habe ich zum ersten Mal die Heslacher Wasserfälle besucht. Es gibt immer noch einige ferne Ziele, die mich reizen: Madagaskar, Kamerun, Iran, die Inseln der Südsee . . . Auch in den USA gibt es für mich noch einiges zu entdecken, aber die Staaten sind ein komfortables Reiseland. Die hebe ich mir fürs Alter auf.