Fachliteratur unter der Kuppel der Villa Reitzenstein. Foto: Piechowski

Die Villa Reitzenstein ist das Märchendomizil einer steinreichen adeligen Verlegerstochter.

Stuttgart - Wie ein Schloss liegt die Villa Reitzenstein auf der Gänsheide am Hang des Bopsers. Oberhalb des Eingangs an der Ostseite der Villa weht auf einer 18 Meter hohen Kuppel die Flagge des Landes, denn das Gebäude ist heute Teil des Staatsministeriums und Regierungssitz des Ministerpräsidenten. An Tagen der offenen Tür erhalten Besucher Einblick in die repräsentativen Amtsräume.

Doch die Kuppel ist auch dann tabu. Birgt sie ein Geheimnis? Die Antwort ist ernüchternd: Zwei kleine Mansardenfester zum Park lassen Licht hinein, Bücherregale schmiegen sich an die runden Wände. Sie sind vollgepfercht mit juristischen und verwaltungswirtschaftlichen Nachschlagewerken, Periodika und Literatur zur Landesgeschichte, kurzum alles, was Beamte im Staatsministerium brauchen. Damit die Angestellten im Staatsministerium finden, was sie suchen, sorgt eine Archivarin für Ordnung.

Baugrund für repräsentatives Domizil

Als die Bauherrin das Anwesen bewohnte, war das Dachgeschoss den dienstbaren Geistern des Hauses vorbehalten: Drei Mädchen, ein Fremdendiener und ein Koch wohnten dort und dienten der 1853 geborenen Helene von Reitzenstein. Deren Vater, der 1869 geadelte Eduard von Hallberger, königlich-württembergischer Verleger, hatte mit seiner Hallberger'schen Verlagsbuchhandlung, später Deutschen Verlagsanstalt, ein Vermögen verdient. Seine Tochter Helene heiratete 1876 Carl Friedrich Sigmund Felix Freiherr von Reitzenstein, Kammerherr der württembergischen Königin Charlotte, der jedoch schon 1897 verstarb.

Durch das Erbe ihres früh verstorbenen Vaters finanziell sorgenfrei, suchte Helene von Reitzenstein einen Baugrund für ein repräsentatives Domizil und entschied sich für die Gänsheide, welche ab 1874 zum Wohngebiet betuchter Stuttgarter wurde. Dort kaufte die Baronin systematisch Grund und Boden nebst Wengerterhäuschen und Bretterschuppen zusammen.

Als Architekten für ihre Villa fand sie Hugo Schlösser und Hans Weirether, die sie zur Inspiration ein Jahr lang auf Reisen zu den Schlössern der Loire in Frankreich und nach Italien schickte. Weil den Baumeistern kein Kostenlimit vorgegeben wurde, entstand zwischen 1910 und 1913 in Anlehnung an den französischen Barock eine zweigeschossige Dreiflügelanlage aus Maulbronner Marmor mit Mansard-Dach, die inmitten der zweieinhalb Hektar großen Parkanlage in französischem und englischem Stil eher einem Schloss als einer Villa glich. Die Kosten: rund 2,8 Millionen Goldmark.

Gekläffe zweier weißer Spitze

Gekläffe zweier weißer Spitze

Überliefert ist der Ausspruch eines Handwerkers, der angesichts all der Pracht ausrief: "Und des älles om oi Bett rom!" Immer wieder ertönte an der Baustelle das Gekläffe zweier weißer Spitze. Es kündigte das Nahen ihres Herrchens, des beleibten König Wilhelm II. von Württemberg, an, der die Höhe hinaufschnaufte, um sich in Begleitung seiner Tochter aus erster Ehe, dem Päule, ein Bild über die Baufortschritte in der Gänsheide zu machen.

In ihrer Villa führte die Hausherrin ein zurückgezogenes Leben. Ab und zu kam Königin Charlotte vorbei. Die von den Stuttgartern ungeliebte Königin dürfte der einzige Mensch gewesen sein, der Helene von Reitzenstein nahestand und mit dem sie angeblich nach dem Tod des Königs zusammenziehen wollte. Außer Charlotte zählten Graf Neipperg, Baronin Wöllwarth, der Bankier Federer und die Schauspielerin Ida Russka zu den seltenen Gästen.

Anwesen 1922 verkauft

Mit der Abdankung des Königs 1918 verlor die Baronin ihr gesellschaftliches Koordinatensystem. Aus Angst vor plündernden Revolutionären soll sie Wertgegenstände wie Gemälde und Schmuck im Obergeschoss der Villa hinter verbarrikadierten Türen versteckt haben - möglicherweise unter der Kuppel. Wegen der aus ihrer Sicht verabscheuungswürdigen Zeitläufte und der hohen Unterhaltskosten der Villa von 1000 Goldmark pro Tag entschloss sie sich zum Bruch mit Stuttgart und verkaufte das Anwesen 1922 dem württembergischen Staat.

Mehr als 100 Teppiche, Bilder, Silber, Porzellan und Schubladen voller Schmuck nahm sie in ihr Haus im bayerischen Garching mit, wo sie 1944 im Alter von 91 Jahren starb, kurz nachdem alliierte Bomber ihr väterliches Verlagshaus in der Neckarstraße zerstört hatten. 1952 wurde ihr Leichnam nach Stuttgart überführt und in der Familiengruft der Hallbergers beigesetzt.

In ihrem ehemaligen Anwesen repräsentieren seit 1922 demokratisch gewählte Regierungen im vergangenen Glanz der Monarchie. Lediglich zwischen 1933 und 1945 residierte dort der Gauleiter und spätere Reichsstatthalter Murr, eine finstere Figur im Terrorregime der Nazis. Ein leuchtendes Andenken an die adelige Verlegerstochter ist unter anderem die Bibliothek der Villa mit kostbaren Holzintarsien und Bücherbeständen. Die sperrige Sprache der Juristen und Bürokraten dagegen lagert dagegen im Abseits der Kuppel.