Lebt Verantwortung in der Krise vor: VfB-Profi Georg Niedermeier Foto: Baumann

Die besten Aktionen hat ein Verteidiger meist dann, wenn er ein Gegentor verhindert. Georg Niedermeier hat sich zuletzt als Integrator profiliert. Der VfB Stuttgart hofft auf nachhaltige Wirkung.

Stuttgart - Die mediale Gegenwart liegt weit in der Vergangenheit. Der letzte Eintrag von Georg Niedermeier bei Facebook datiert vom Mai 2014. Darin bedankt sich der VfB-Verteidiger bei den Fans und verabschiedet sich in den Portugal-Urlaub. Seither herrscht Funkstille. So viel vornehme Zurückhaltung ist selten in einem Geschäft, das doch weithin nach marktschreierischen Prinzipien funktioniert. „Zurzeit ist nicht die Phase der großen Worte“, sagt Niedermeier mit Blick auf die Tabelle.

Dabei gäbe es so viel zu erzählen.

Zum Beispiel, wie es sich anfühlt, nach der x-ten Heimniederlage vorneweg zu marschieren und die Mannschaft in die Kurve zu führen, den enttäuschten, aufgebrachten, womöglich hasserfüllten Fans entgegen. Nicht ahnend, ob Pappbecher, Feuerzeuge oder Beleidigungen geflogen kommen.

So genau wusste Georg Niedermeier (29) die Stimmung auf den Rängen nicht einzuschätzen, als er vergangenen Freitag nach dem 2:3 gegen Borussia Dortmund die Initiative ergriff. Er machte sich auf, lief los, gefolgt von den Mitspielern, lief immer weiter und stoppte auch nicht wie sonst zehn Meter vor dem Zaun: „Unterwegs habe ich gespürt, dass die Fans uns nichts Böses wollten. Deshalb bin ich immer weitergegangen.“ Hinter ihm waren Martin Harnik, Sven Ulreich und Florian Klein, ihnen raunte er zu: „Wir bleiben nicht stehen, lassen uns auspfeifen und gehen wieder mit einem schlechten Gefühl auseinander. Wir ziehen es durch.“

Forsch wie Schorsch.

Dann standen sie vor dem Zaun, und dann geschah das, was Niedermeier „im Nachhinein für beide Seiten gewinnbringend“ nennt: Die Fans spendeten Trost und suchten das Gespräch. Und die Spieler nahmen die Geste dankbar an. „In erster Linie ging es darum, sich der Verantwortung zu stellen“, sagt Niedermeier, „die Fans haben unseren Respekt verdient. Und wir haben ihnen verdeutlicht, dass uns viel am VfB liegt und dass wir den Bundesliga-Standort Stuttgart unbedingt erhalten wollen.“

Beim VfB waren sie kurz davor, Niedermeier für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen. „Es war klasse, wie Georg die Mannschaft in die Pflicht genommen hat“, sagt Sportvorstand Robin Dutt. Wenig später in der Kabine, tags darauf beim Ausradeln und seither bei den gemeinsamen Mahlzeiten – immer wieder ist die Reaktion der Fans intern Gesprächsstoff. „Sie hat uns eine unglaublich positive Energie gegeben“, sagt Niedermeier. „Ein Wow-Effekt“ sei das gewesen, bekräftigt Dutt, „dieser Impuls von außen schreit danach, dass die Mannschaft ihn aufnimmt und für sich nutzt.“ Am besten gleich an diesem Samstag (15.30 Uhr/Sky) im Spiel bei Hannover 96.

Es wäre auch ein Dankeschön an Georg Niedermeier. Es gehört ordentlich Mut dazu, sich am vorläufigen Tiefpunkt der Krise zu stellen – und noch mehr Mut, vorneweg zu gehen. Auch wenn der Münchner die Aktion herunterspielt: „Ich bin jetzt sechs Jahre beim VfB, habe eine hohe Identifikation mit dem Verein und spüre die Verantwortung.“

Die lebt er vor, nicht nur am vergangenen Freitag. „Wir brauchen elf Kapitäne“, sagt Niedermeier. Nach dem Abpfiff gegen Dortmund war er einer, nicht nur, weil er anstelle des gesperrten Spielführers Christian Gentner die Binde trug. Aber gleich elf von seiner Sorte? „Wir haben viele Spieler, die vorangehen.“ Leider zeigen es zu viele zu selten.

Niedermeier hat das soziale Bewusstsein im Blut, „das ist ein Stück weit mein Naturell“. Den Rest hat früh schon Hermann Gerland geschärft, sein Trainer bei den Junioren des FC Bayern. Die Werte, die ihm nicht zuletzt der „Tiger“ vermittelte, hat Niedermeier verinnerlicht. Obenan stehen Bescheidenheit, Authentizität, Pflichterfüllung, Integrität, dazu Ehrgeiz und harte Arbeit. Das hat ihm bislang 152 Bundesligaeinsätze beschert, was auf den ersten Blick nicht zu erwarten war. Niedermeier ist kein Rastelli am Ball, und den 100-m-Weltrekord wird er auch nicht mehr brechen. Aber er ist ein Kämpfer, wie allein die letzten Jahre beim VfB zeigen. Er galt schon als Auslaufmodell, unter Trainer Thomas Schneider spielte er nur eine Nebenrolle, unter Armin Veh auch. Erst unter Huub Stevens ist er wieder Stammspieler. „Ein Auf und Ab“, sagt er. Sich nicht unterkriegen zu lassen lautet seine Devise: „Für mich ist es wichtig, dass ich mir über meine Rolle in der Mannschaft im Klaren bin. Natürlich will jeder spielen, aber Verantwortung bedeutet auch, in jedem Training alles zu geben. Dadurch kann man die ganze Mannschaft besser machen.“

Das ist relativ für eine Mannschaft, die Tabellenletzter ist. Und in der Georg Niedermeier einen eigentümlichen Part spielt – mal Turm in der Abwehr, mal Torjäger.

Gefühlt hat er sich bei seinen Vorstößen in dieser Saison die meisten Torchancen aller VfB-Profis erarbeitet, was viel über die schiefe Spielanlage der Mannschaft aussagt. Niedermeier leidet darunter, aber er mosert nicht, auch nicht hinter vorgehaltener Hand. Trotz der misslichen Lage geht ihm Loyalität über alles. Mit der defensiven Ausrichtung unter Trainer Huub Stevens habe die Mannschaft „deutlich an Sicherheit gewonnen“. Sie kassiert zwar Gegentor um Gegentor, aber die Kunst besteht darin, das Positive herauszufiltern: „Gegen große Clubs wie den FC Bayern, Borussia Mönchengladbach und Borussia Dortmund haben wir die Spiele eng gestaltet.“ Was ihn darin bestärkt, dem glücklosen Stevens zumindest verbal beizustehen: „Wir alle tun gut daran, ihm Vertrauen entgegenzubringen. Mit ihm sind wir auf dem richtigen Weg.“

Was sich jetzt gegen Hannover 96 und Hertha BSC in Punkten auszahlen muss – damit der Weg des VfB nicht in der zweiten Liga endet. Eine Horrorvision, die Georg Niedermeier weit von sich schiebt. Ebenso die Frage, ob er den dann fälligen Neuaufbau mitgestalten würde: „Wir dürfen keine negativen Gedanken aufkommen lassen.“

Besser ist immer: stramm vorangehen. Im Spiel. Und notfalls, wie gegen Dortmund, auch danach.